Ein großer Wurf

Das Blut und alle 10 Teile des KORBAN („Opfers“) müssen auf den MISBEACH (Altar) geworfen werden; keinesfalls dürfen sie vorsichtig getragen und geordnet abgelegt werden, denn das Ordnen gehört zur unteren Welt.
Wenn man etwas aufgibt, soll man es von sich werfen und darauf hoffen, dass es „drüben“ schon gut ankommen wird. Ein Sämann verfährt nach dem gleichen Prinzip. Beim letzten Schritt, beim letzten Kontakt, kurz vor dem Sich-Lösen von dem, wovon man sich trennen will – manchmal sogar muss –, versieht man das, was von einer Welt in eine andere kommen soll, mit einer solchen Schwungkraft, dass es Kluften und Distanzen überwinden kann. Jetzt hat man sich aller Kontrolle entledigt, weiß nicht, was dabei herauskommen wird. Doch es gibt noch mehr als Wissen. Wer so handelt, bewirkt den REACH HA-NICHOACH, den lieblichen Duft, der davon zeugt, dass alles zu Hause angekommen ist. Ein solcher Mensch erfährt Gefühle überwältigenden Glückes in seinem Leben, wohingegen derjenige, der sich von nichts lösen kann oder will, immer weiter hinuntergezogen wird.

Wer von seinem unvergänglichen Zuhause weiß, wem Erlösung kein Abstraktum ist, wirft mit Freuden und großer Kraft zurück, von wo er selbst hierher geworfen wurde. So verbindet der Mensch Himmel und Erde. 

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Autor: Dieter Miunske


Wer sich selbst erhöht …

… hat manchmal allen Grund dazu.
Mit dem Steigen der Wasser der Sintflut begibt man sich in höhere Lagen oder auf Gebäude. Weniger weil man es dort besonders schön findet, sondern weil es ein Versuch ist, sich selbst retten zu wollen. Menschen, die sich selbst erhöhen, zeigen damit auch unbewusst ihre Angst vor einer steigenden Flut, der sie machtlos gegenüberstehen.

Noach braucht sich nicht selbst erhöhen. Seine Rettung ist die Arche, die mit der Flut steigt, ihn quasi auch erhöht, aber auf eine verborgene Art. Von außen betrachtet kann man nicht erkennen, ob jemand wirklich seine Zuflucht im Wort (TEBAH / Arche) gefunden hat oder nicht. Man wird ihn jedoch nicht bei den Klagenden und Schreienden finden. 

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Autor: Dieter Miunske


Rosch Ha-Schanah – Das Lied des Vaters

Im jüd. Kalender ist heute Neujahr, auf Hebräisch ROSCH HA-SCHANAH, wörtlich „Haupt des Jahres“. SCHANAH, Jahr, bedeutet als Verb „ändern“ und „wiederholen“. Einerseits wiederholen sich die Tage, Monate und Jahreszeiten und doch bleibt nichts, wie es war. Man ruft sich ein „ROSCH HA-SCHANAH“ zu und hofft, dass sich alles zum Guten ändert. Zählen wir die Buchstaben des Neujahrstages bzw. -grußes zusammen, erhalten wir 861 (200+1+300+5+300+50+5), eine bedeutende Zahl, denn sie ist die volle Entfaltung der 41 (41+40+39+ … +3+2+1). Die 41 und die 861 stehen in einem festen Zusammenhang, nicht zuletzt, weil 861 geteilt durch 41 die 21 ergibt, die Zahl von EHEJEH, 1+5+10+5, „ich bin“. Die 41 ist im Hebräischen die Mutter, EM, 40+1. Eine Mutter ist eine Frau, die neues Leben in die Welt gebracht hat. Das „Ich bin“ verschmilzt mit der Mutter und sie ist es, die eine neue Welt hervorbringt, die die Gene des „Ich bin“ in sich trägt. 

Das Besondere an dieser Mutter ist, dass es eine BETHULAH, eine Jungfrau ist, wie auch das jüd. Neujahr im Zeichen Jungfrau beginnt. Dazu Friedrich Weinreb:

Im Brauch im Judentum wird vom 1. Tag des Ellul an das Widderhorn, der Schofar geblasen. Gott, heißt es, bläst seinen Odem am Beginn der Schöpfung, als Prinzip der Schöpfung, in das Horn und ruft damit das Lamm, den Widder hervor. So kommt im Zeichen des Lammes die ganze Schöpfung zustande. »Jungfräulich« ist die Schöpfung, im Zeichen der Jungfrau, »bethula«, entsteht die Welt, auf die »bethula« ist sie gegründet. So ist die Jungfrau die Mutter der Welt. Aus ihr kommt überhaupt alles zustande. Am biblischen Neujahrstag, dem 1. des 7. Monats Tischri, wird der Mensch erschaffen. Vorher aber ist also das Lamm und die Jungfrau als Mutter der Welt. 

Innenwelt des Wortes im Neuen Testament, Seite 46

Und wie jedes Kind einmalig und neu ist, so ist auch jedes Jahr einmalig und neu. Nichts bleibt, wie es war, alles ändert sich, auch wenn es vielleicht nicht sofort danach aussieht. Heißt es doch nicht „Neu-Jahr“ wie im Deutschen, das schon mit sich bringt, dass auch etwas „Altes“ da sein muss, sondern „Haupt des Jahres“. Mit dem Haupt, dem ROSCH beginnt die Bibel, beginnt die Schöpfung. Was war vorher? Was ist vor der 1? Das Lamm geht voraus, aber nicht als etwas in unserem Sinne (Be)Greifbares. Die Grundlage der Welt ist JESSOD und darin finden wir SOD, das Geheimnis.

Man bläst das Horn eines Widders, nicht das eines Kalbes, weil das Kalb dir Erinnerungen bringt, die dich nach unten ziehen (bezieht sich auf das „Goldene Kalb“) – das Lamm aber sagt dir: Siehe, ich mache alles neu; das Alte ist vergangen (s. 2. Kor. 5:17). Eine neue Schöpfung ist keine Fortführung einer alten Welt, auch nicht im Sinne einer Verbesserung, sondern etwas bislang Unbekanntes kommt aus dem Verborgenen ins Sichtbare hervor, zunächst klein und unscheinbar, doch dann bricht es sich mehr und mehr Bahn und keiner kann es aufhalten.

Im Griechischen geht das Wort für „Schöpfung“ (ktisis) zurück bis auf das Verb „erwerben“ (ktáomai), welches uns zu Luk. 21:19 führt, worin uns noch ein besonderer Aspekt der Schöpfung mitgeteilt wird: 

Erwerbt eure Seelen durch euer (wörtlich)unten drunter Verweilen (gr. hypo-moné).

Eine neue Schöpfung geschieht um der Gewinnung der Seele; das ist ein wichtiger Punkt. Möge uns das allen gelingen, möge die Seele singen! Singen, SCHIR, 300+10+200 hängt doch direkt mit dem Haupt, ROSCH, 300+1+200, zusammen. SCHIR bedeutet nicht nur das Singen im Allgemeinen, sondern ist ein „in ein neues Lied ausbrechen“, sodass sich die Seele aufschwingen kann. Das erste Wort der Bibel besteht aus 6 Zeichen, die man zum “Lied des Vaters” oder zum “Lied der Väter” umstellen kann:

Das Lied, die andere Seite des Menschen

In diesem Sinne ist eine neue Schöpfung auch ein neues Lied – “singt Ha-Schem ein neues Lied!“, heißt es mehrfach in den Psalmen und bis in die Offenbarung des Johannes kommt das neue Lied immer wieder vor. Das Lied des Vaters besingt nicht deine Fehler und Schwächen, sondern deine Verbundenheit mit dem Höchsten, mit dem Ewigen. Deshalb geht der jüdische Neujahrstag 2 Tage lang, denn jedem Tief steht ein Hoch gegenüber, immer gibt es auch die andere Seite – die Tür steht offen.
In diesem Sinne Rosch Ha-Schanah!

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Autor: Dieter Miunske


Die Seele und das Licht

Die heilige Thora ist ein Licht, das leuchtet und leitet. Ohne dieses Licht tappt der Unwissende in der Finsternis. Er trifft einen Stein, stößt sich daran; einen Graben, fällt hinein, weil er das Licht nicht in der Hand hat. –
Wer die Thora studiert, verbreitet Licht um sich; er stößt auf keinen Stein, fällt nicht in den Graben, weil er das Licht in der Hand hat. Bewahre in deinen Händen mein Licht, sagt Gott zu dem Menschen, und ich werde dein Licht (die Seele) in meinen Händen bewahren.
(Rabbot S. 153 a.)

Welches ist der Weg zur Wohnung des Lichts, und die Finsternis, wo ist ihr Ort? – dass du sie zu ihrer Grenze hinbringen könntest und dass du die Pfade zu ihrem Haus kenntest. Du weißt es; denn damals wurdest du geboren, und die Zahl deiner Tage ist groß!

Hiob 38:19-21

Gemäß Nachmanides und anderen entstanden die NESCHAMOTH (göttl. Seelen) mit dem Licht (JEHI OR). Die NESCHAMAH gehört zur 1 (zum Licht vom Tag 1 der Schöpfung). Alle NESCHAMOTH (Seelen) zusammen sind die NESCHAMAH (Seele) des ADAM KADMON (“Ur-Menschen”).
Gottes Licht bewahrt, wer den Nächsten liebt wie sich selbst.

Die Bibel beschreibt die Welt der Seele und deren Beziehung zum Körper, den sie verwaltet. Die Thora als Inbegriff für das geschriebene Wort Gottes ist, wie Weinreb sagt, “die Landkarte des Nichtbewussten, des Ewigen“. Oder an anderer Stelle:

Der Begriff »Offenbarung« bedeutet also für den Menschen, dass er als Mensch zugleich in einer anderen Welt ist. Darum ist der Zugang zur schriftlichen Thora das Schwierigste. Man verhüllt sie immer mit vielen Geschichten, um zu verhindern, dass der Mensch unvorbereitet auf das Wort Gottes stößt. Immer möchte man doch das Geheimnis, das Mysterium kennenlernen. Nun liegt ja das Mysterium gedruckt vor – aber man kann es nicht lesen. Zwar versucht man auf vielerlei Weise, doch etwas davon zu verstehen, aber es ist tatsächlich ein so großes Mysterium, dass nur der es begreifen kann, der diese Nahrung auch verträgt; sonst kann er es nicht zu sich nehmen.

Friedrich Weinreb, Das Opfer in der Bibel

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Autor: Dieter Miunske


Die Sprache neu lernen

Nach dem Auszug aus Ägypten gelangt das Volk Israel in die Wüste. Das hebr. Wort für Wüste ist MIDBAR (40+4+2+200). Man kann leicht erkennen, dass das Wort DIBER (4+2+200) darin enthalten ist, welches meist mit „sprechen“, oder der Fähigkeit zu sprechen, übersetzt wird. Als DABAR ausgesprochen ist es das Wort, die Sache oder das Ding. Doch die Hauptbedeutung der 3 Konsonanten ist weder das Eine noch das Andere. An erster Stelle bedeutet D-B-R „verschiedene Punkte zu einem Ganzen (zur Eins) kombinieren“. Das Wort, so der Sohar, geht mit ins Exil und verliert dort seine Kraft, weil es den Bedingungen MIZRAJIMS unterworfen wird. Es wird dort immer wieder neu an die Form angepasst und „normiert“. Das genormte Wort verliert dann jedoch seine Eigenschaft, Hoffnung im Menschen zu wecken, auch schafft die Sprache es in diesem Zustand nicht mehr, Erinnerungen im Menschen an seine wirkliche Herkunft wachzurufen. 

Das 4. Buch Mose (Numerus) wird im Original BE-MIDBAR genannt, was man mit „in der Wüste“ oder auch „im Gespräch“ übersetzen kann. In BE-MIDBAR geht es darum, dem Wort die verloren gegangene Kraft wiederzugeben. Es ist ein Gespräch mit Worten, die aus Ägypten befreit sind. Auch das Wort muss von der Versklavung, von der Festsetzung befreit werden. Erst dann, in der Rückverbindung zum Ursprung des Wortes, wird es auch mit der Kraft verbunden, die das Unmögliche wahr werden lässt. 

Der Mensch neigt dazu, Strukturen, die ihm Stabilität geben, aufzulösen – das nennt er dann Freiheit – und wo Freiheit ist, fängt er an, zu zwingen und Regeln aufzustellen, die das Leben weichen lassen. Die Sprache ist ein typisches Beispiel dafür. Trennt die Sprache den Menschen von seiner Quelle oder verbindet sie ihn, gibt sie ihm Kraft und Mut oder raubt sie ihm die Hoffnung? 

In der Wüste soll jeder für seinen „täglichen Bedarf“ sammeln (Ex. 16:4). Dieser Ausdruck lautet im Original DVAR JOM. JOM ist der Tag und DVAR besteht aus den oben genannten Konsonanten D-B-R. Der „tägliche Bedarf“ ist somit auch „das Wort des Tages“, welches uns nährt und uns weiter bringt auf dem Weg. Zu erfahren, dass alles ganz anderes ist, als man es in MIZRAJIM gelernt hatte, erzeugt eine gewisse Abneigung der Speise gegenüber, die vom Himmel fällt, denn man erwartet doch ganz nach ägyptischer Manier, dass man nur ernten kann, wenn man auch gesät hat. Was der Mensch nicht gewohnt ist, lehnt er gerne ab, weshalb es einen Weg (durch die Wüste) braucht, um ihn der ägyptischen Maße zu entwöhnen. Nicht säen, nicht ernten und doch ernährt werden, ist von den Vögeln des Himmels gesagt. Dieser Vers in Matth. 6:26 endet mit der Frage „Seid ihr nicht viel mehr wert als sie?“ Das unscheinbare „mehr“ bedeutet im Griechischen „Du wirst auf zwei Arten getragen, nämlich Hier und Dort“.*

So nährt und trägt uns ein Gespräch, wenn es die Welten verbindet. Man braucht es nicht in Scheunen zu sammeln. Warum eigentlich nicht? Weil „dort“ alles da ist. Von dort fällt es zu und fällt es ein; niemals bist du allein auf dem Weg!

Wenn die 3 Zeichen DALETH-BETH-RESCH zum ersten Mal in der Bibel vorkommen, ist auch von einem Auszug die Rede:

Und Gott redete zu Noach und sprach: Geh aus der Arche, (…)

Gen. 8,15-16

Auf andere Art formuliert:
“Verlasse das Wort in den Maßen, die ich dir gegeben habe. Jetzt betrittst du eine neue Welt. Alle, die in der TEBAH (Arche bedeutet auch Wort) waren, lasse frei! Lass‘ sie gehen, auf dass sie auf ihre Art leben können! Halte nichts in dem begrenzten Wort fest, so wie es dich errettet hat. Diese Maße gab ich dir, sodass du von einer Welt in die andere gelangen konntest. Dort angekommen, rufe niemanden mehr in diese Begrenzungen hinein.” 

Höre das Wort immer wieder neu. Für jede Zeit gibt Gott eigene Maße und er gibt allen, die auf dem Weg sind, DVAR JOM, den täglichen Bedarf. Nur sammeln muss man selbst. In Ägypten kommt DVAR JOM als Ausdruck zum ersten Mal vor, doch dort bedeutet es tägliche Arbeit unter Druck der Treiber (Ex. 5:13).

* [Herkunft: Aus δια diá = δυο dyo zwei + φερω phéro tragen, (wörtlich: auf zwei Weisen, hier und dort, tragen)]

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Autor: Dieter Miunske