Alte Welten in uns

Spontanes Handeln mit innerer Sicherheit

Es kommt oft vor, dass Menschen in bestimmten Situationen ungewöhnlich reagieren. Erst später erkennt man, dass die Reaktion richtig war, doch man fragt sich, wodurch sie zustande kam. Natürlich ist die ganze Welt in all ihren Teilen, also auch in all ihren Handlungen, von Gott erschaffen worden, und diese Reaktionen wurden sozusagen auch von Beginn der Schöpfung an festgelegt. Dennoch fragt man sich, wie sich diese Art der Reaktion aus der Geschichte der Welt erklären lässt. Wir sehen dann, wie sich bestimmte Ereignisse immer wiederholen und andere Menschen zu anderen Zeiten mit denselben Ereignissen konfrontiert werden. Man denke an das besonders bezeichnende Beispiel der Situation von Jakob, Esau und Rebekka bei der Segnung, die Isaak vornehmen wollte, wo sich die gleiche Situation wie im Garten Eden mit Adam, Eva und der Schlange ergab.
Rebekka handelt in dieser Situation auf eine Art und Weise, die Fragen aufwirft. Woher nimmt sie Sicherheit, Mut und Durchsetzungsvermögen, wie kann sie die Verantwortung für eine solche Handlung übernehmen, die ihrem Wesen nach ein schwerer Betrug ist?

Gemäß der Überlieferung handelt es sich beim Segen Isaaks um eine Wiederholung der Situation im Garten Eden. Die Bibel entwickelt sich weder linear in der Zeit, noch entstand sie auf diese Weise. Im Midrasch heißt es: Gott schaut in die Thora und schafft die Welt. Alles findet gleichzeitig auf unterschiedlichen Ebenen statt. Wir sehen davon immer nur Ausschnitte, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben. Die Ge-Schichten entsprechen Schichten in unserem eigenen Leben. Rebekka ist Eva oder anders ausgedrückt: Die Intuition Rebekkas basiert auf dem Erleben Evas, die auf die Versprechungen der Schlange hereinfällt, weil Letztere eine List anwendet. Die Konsequenzen sind für Eva so verheerend, dass Rebekka in dem Augenblick, als sie bemerkt, dass nun wiederum das Äußere (Esau) den Vorzug erhalten soll, wieder in einem Desaster enden würde. Evas Erfahrung manifestiert sich in Rebekka derart, dass ihr eine enorme Entschlusskraft erwächst und sie keine Sekunde zögert, das zu tun, was getan werden muss. Jakob, der Auserwählte, zögert und will es vermeiden; er bereut die ganzen Umstände, weil er gerne einen anderen Platz, eine andere Rolle eingenommen hätte, aber Rebekka weiß genau, was sie zu tun hat.

Als nach Jakob Esau vor Isaak trat, entsetzte sich dieser überaus. Nie heißt es von einem Menschen, dass sein Entsetzen überaus groß war, es sei denn, es hätte ihn schon früher einmal ein ähnlicher Schreck erfasst gehabt. Und so war es auch bei Isaak. Als er auf dem Berge Moria von seinem Vater gefesselt wurde und der das Messer hervorzog, dass er ihn opfere, erschien der Herr neben den Engeln und tat das Himmelsgewölbe auf. Da erhob Isaak seine Augen, sah die himmlischen Hallen, und es überfiel ihn ein Zittern

Sagen der Juden

So kennen wir auch die Geschichte vom König von Ninive im Buch Jona, der unerklärlicherweise, ganz gegen die Regeln eines Königs von Ninive, einer heidnischen Stadt, auf die erste Rede eines fremden Propheten hin sofort so radikale Maßnahmen zur Umkehr zu Gott ergreift, dass man eigentlich nur verwundert den Kopf schüttelt und es nicht glauben will (Jona 3,6). Wenn man aber weiß, dass es sich bei diesem König von Ninive um Pharao handelt (ich will nicht sagen, ob es sich um dieselbe Person oder um eine so genannte Reinkarnation handelt, denn das alles spielt in der biblischen Geschichte keine Rolle), dann versteht man sehr gut, dass die Schläge, die Pharao für sich und sein Volk einstecken musste, so groß waren, dass eine Wiederholung dieses Fehlers sicherlich undenkbar wäre. Und so hat auch die ganze Welt eine Geschichte, und in vielen Dingen hat sie schon solche Schläge und Zerstörungen erlebt, dass sie manchmal unverständlich unlogisch und beharrlich reagiert. Denken Sie zum Beispiel an das, was die moderne Welt den religiösen Instinkt des Menschen nennt. Der Mensch in unserer Welt, wie wir sie kennen, sieht praktisch keinen Gott. Im Gegenteil, er sieht das, was man als Ungerechtigkeit bezeichnen könnte. Und je mehr er sieht, dass es ungerecht zugeht, desto mehr klammert er sich an Gott, den er doch nie gesehen hat, für den es keinen direkten Beweis gibt, von dem er nur gehört oder gelesen hat. Ein solches Phänomen lässt sich nicht mit dem Bedürfnis des Menschen nach etwas Ideellem erklären, an das er sich klammern kann, sondern es ist schlicht und einfach das – wenn auch unbewusste – Wissen des Menschen, dass es einen Gott gibt und dass dieser alle Dinge in der Welt lenkt. 

Daher ist der religiöse Instinkt eine vollkommen unlogische Sache. Logisch wäre es, wenn der Mensch einfach in den Tag hineinleben und sich um nichts kümmern würde. Normen und Regeln sollten nach Logik und Verstand als unnötiger Ballast über Bord geworfen werden und vor Raub und Mord würde ein solcher Mensch nicht zurückschrecken. Doch selbst die schlimmsten Verbrecher kennen das Gefühl der Reue und der Gottesfurcht, und dank dieser Empfindungen werden Menschen zurückgehalten, bösartige Dinge auszuüben bzw. in die Tat umzusetzen. Man könnte aber auch sagen, dass wenn der Mensch ausschließlich die Logik zu seinem Gott macht, Verbrechen und Ungerechtigkeit maßlos werden und überhand nehmen.

Die Hemmung vor dem Ungerechten

Das Gefühl der Hemmung entsteht, weil die Welt und ebenso der Mensch Gottes sichtbares Eingreifen bereits erlebt haben; Welt und Mensch, man könnte sagen, kennen Gott von Angesicht zu Angesicht, doch diese Kenntnis liegt tief verborgen im Innern und entzieht sich damit einer direkten Erklärbarkeit. Ein Mensch, solange er innerlich noch nicht ganz abgestorben ist, weiß aus seinem Inneresten auch, dass Gott bei jedem Erlebnis anwesend ist und deshalb handelt er immer wieder unlogisch oder sogar auf nutzlose Art und Weise, weil in ihm Maßstäbe von ganz woanders her felsenfest verankert sind. Dazu gehören Moral, Anstand, Elternliebe, Respekt vor dem Partner usw. Manchmal haben diese Eigenschaften wenig bis gar nichts Nützliches und doch werden sie auf unbegreifliche Weise gelebt und eingehalten. Diese Form der Treue wird aus einer Erinnerung heraus genährt, die mit einem Erleben zu tun haben, welches in uns gespeichert ist und sich als rechtschaffen und beständig bewährt hat. Das Zerbrechen dieser innewohnenden Normen führt den Menschen in eine unbeständige Welt, eine Scheinwelt, in der er jeglichen Halt verliert.

Die moderne Psychologie verfügt heute über Arbeitsmethoden, die auf dem Unterbewusstsein basieren, und viele Handlungen des Menschen werden mit Hilfe dieses Unterbewusstseins erklärt. In diesem Unterbewusstsein gibt es viele Dinge aus diesem Leben, die wir nicht verarbeiten, die wir nicht aussprechen, die noch nicht abgegolten sind, und ohne dass der Mensch es merkt, bleiben sie in Reserve, um plötzlich aufzutauchen, wenn bestimmte Umstände eintreten. Aber nicht nur das, was der Mensch selbst erlebt, befindet sich im Unterbewusstsein, sondern es gibt noch viele andere Faktoren, die dieses Unterbewusstsein, das eigentlich der größte Teil der Seele ist, bestimmen. 

Die moderne Psychologie vergibt daher Namen für die verschiedenen Komplexe, die oft aus der Antike stammen und mit den alten Götter- und Heldengeschichten verbunden sind. Da ist zum Beispiel der so genannte Ödipuskomplex, bei dem sich die unerklärliche Liebe eines Mannes zu seiner Mutter und sein Hass auf seinen Vater offenbaren. Auf diese Weise erkennt man viele Dinge, die man in Geschichten aus der Antike eigentlich überraschend findet, und man sagt: „Die Alten waren raffinierte Psychologen“. Das ist natürlich überhaupt nicht wahr. Die Alten erzählen nur Geschichten aus der Welt, bevor es diesen Menschen gab, und sie erzählen sie so, dass diese Geschichten einfach auf jede Welt übertragen werden könnten. Wir brauchen diese alten Mythen natürlich nicht, weil uns auf die einzig richtige Weise gesagt wurde, wie der Lauf der Welten ist, und wir können auch daraus lernen und sehen, wie der Mensch, so wie er in dieser Welt erscheint, immer wieder in Situationen aus früheren Leben kommt und dann aufgrund der Erfahrungen, die im Unterbewusstsein aus diesen vergangenen Leben gespeichert sind, anders reagiert als man es erwarten würde.

Die Seele weiß mehr, als es der Verstand zu fassen vermag

Unsere Seele, die sich physisch vor allem in unserem Gehirn ausdrückt, bewahrt die Erinnerung an all diese Welten und Leben, weil sie dort gewesen ist und alles weiß, und in der Tat, wenn ein bestimmtes Ereignis eintritt, reagiert der Mensch wie ein ewiges Wesen, scheint plötzlich Dinge zu beherrschen, die man nicht mit seinem Leben hier in Verbindung bringen könnte. Ohne diese Erinnerung an die Vergangenheit und das wirklich bewusste Wissen um eine Zukunft, in der bereits alles erlöst ist, könnte der Mensch nicht eine Stunde auf dieser Erde leben, ohne sich dieses Leben sofort wieder zu nehmen. Auch hierin zeigt sich wieder eine gegenseitige Verquickung: Je stärker das Innere vernachlässigt oder gar verleugnet wird, desto mehr neigt der Mensch dazu, seinem Leben ein Ende zu setzen.

Dieses Wissen ist Teil einer großen Linie, die schon vor unserem Leben bestand und sich durch uns hindurchzieht, um weiterzugehen. Wir können diese Linie nicht unterbrechen, aber wir können uns selbst von ihr trennen. Dabei ist sie die Quelle der Freude, des Glückes und sie bewirkt in uns einen gesunden Optimismus, der uns daran hindert in einem Pessimismus unterzugehen. Je stärker der Mensch hieran angebunden ist, desto größer wird die Chance, dass er die Grenze der körperlichen Hülle durchbricht und Zusammenhänge erkennt, die man auf dem linearen Weg des Studiums nie sehen könnte. In der Konsequenz wird ein solcher Mensch immer fröhlicher und aufgeweckter werden, auch wenn die äußeren Umstände keinen Anlass dazu geben. Ein gläubiger Mensch, der permanent sauer dreinschaut, betrügt sich selbst und zeigt, dass er kein Leben aus dieser inneren Quelle erfährt.

Der gläubige Mensch erhält seine Beziehung zu seinem inneren Erbe lebendig und hat so ein fortwährendes tiefes Empfinden davon, dass alles schon von Beginn an erlöst ist, auch wenn er das in seinem gegenwärtigen Bewusstsein nicht erkennen kann, dass nach der Nacht der Morgen kommt und es nicht Nacht bleibt, und das ist das Fundament dafür, dass er, egal unter welchen Umständen, immer noch lachen kann, weinen kann und anders reagiert als nach Nützlichkeitserwägungen angemessen wäre.

Würde man sein Leben nur nach wirtschaftlichen Aspekten und materiellem Gewinn ausrichten, wäre es ein einziger Schmerz und in jeder Hinsicht ungenießbar. Dazu ist uns das Leben nicht geschenkt worden! Wenn der Mensch nur noch produktiv ist und anhand seiner Leistung bewertet wird, ist er unter dem Niveau eines Tieres, denn selbst einem Löwen muss man zugestehen, dass er sich daran freut satt in der Sonne zu liegen. Er macht sich keine Gedanken darüber sogleich die nächste Antilope zu jagen, weil innere Sättigung ein verändertes Verhalten mit sich bringt. Wenn man sich äußerlich immer mehr anhäuft, wird man vielleicht erfahren müssen, wie die Erben das Vermögen in den Sand setzen oder der Staat das, was z.T. schwer erarbeitet wurde, raubt.

Mit dem einseitigen Blick auf eine Leistungsgesellschaft verwirft man auch gar bald den Wunsch nach Kindern, weil man diese nicht in eine solche Qual hineinbringen möchte. Doch wir dürfen nie vergessen, dass in jedem Mensch auch das andere lebt und es zeigt sich mitunter darin, dass man in Wut gerät und den Drang hat, den Konsum untergehen zu lassen, wie es die beiden Weltkriege gezeigt haben. Menschen reißen nieder, was sie aufgebaut haben, weil sie spüren, dass das Leben nicht aus einem endlosen „MEHR“ besteht, sondern in Dingen, die man sich gerade nicht verdienen oder kaufen kann.

Der Zerstörungsdrang des Menschen ist sein natürliches Abwehrmittel gegen die Gesellschaft, weil er diese Form des Lebens nicht erträgt. Er zerstört dann aus purem Vergnügen dasjenige, wovon man gesellschaftlich behauptet, dass es das Leben ausmache. Die hierbei zum Ausdruck kommende Wut ist in Wahrheit ein Schrei danach, dass man die Lüge erkennt und sich nach etwas anderem sehnt.

Und der wirkliche Mensch weiß, dass am Ende alles gut wird, dass der Kampf mit Kanaan gewonnen wird, weil er schon in diesem Leben einen Teil dessen in sich trägt, der bereits die Erlösung erfahren hat, so wie die Menschheit unbewusst einen Teil einer längst vollbrachten Erlösung in sich trägt.

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Basierend auf handschriftlichen NL-Notizen von Friedrich Weinrebs.

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Autor: Dieter Miunske