Einst hielten die Knappen Davids gemeinschaftlich ihre Mahlzeit ab, und es wurden ihnen gekochte Eier aufgetragen. Einer der Jünglinge war hungriger als die anderen und verzehrte seinen Teil vor ihnen. Als dann die Übrigen zu essen begannen, schämte er sich, dass seine Schüssel leer war, und sprach zu seinem Nebenmann: Borge mir ein Ei. Der Kamerad antwortete: Ich will es gerne tun, wenn du mir vor Zeugen versprichst, mir das Ei zu der Zeit, wann ich es verlangen werde, zurückzuerstatten, samt dem vollen Ertrag, den es mir bis dahin eingebracht haben würde. Der Knabe verpflichtete sich vor allen Tischgenossen, das zu erfüllen.
Nach langer Zeit erinnerte ihn der Freund an die Schuld. Der Jüngling antwortete: Das Darlehen bestand nur in einem Ei. Der Freund aber verlangte viel mehr, und so gingen sie beide zum König David. Vor dem Tore zum Palast sahen sie Salomo, den Sohn des Königs, sitzen. Er hatte zur Gewohnheit, alle, die zu David in einer Angelegenheit kamen, nach dem Grunde ihres Besuches zu fragen. Als nun die zwei Knaben erschienen, wollte er gleichfalls den Grund wissen, weshalb sie gekommen seien. Die Jünglinge erzählten ihm ihren Fall. Da sprach Salomo: Tragt meinem Vater die Zwistigkeiten vor; wenn ihr zurückkehrt, sagt mir, wie er euch beschieden hat.
Also ließen sich die Jünglinge vom König David vernehmen, und der Kläger stützte sich auf die Aussagen der Zeugen und erzählte von der Bedingung, unter der der Verleih geschehen war. Danach hätte der, der das Ei erhalten habe, dem, der es gegeben habe, allen Gewinn zu zahlen, den man von einem Ei in solch einer langen Zeit habe. Darauf sprach König David zu dem Angeklagten: Du hast deine Schuld zu tilgen. Da sagte der Jüngling: Ich weiß nicht, wie viel ich zu zahlen habe. Der Freund stellte nun vor dem König eine Rechnung auf und führte Folgendes aus: In einem Jahre wird aus einem Ei ein Küken; das Jahr darauf bringt dieses Huhn 18 Küken; im 3. Jahre erzeugen die 18 gleichfalls je 18, und so geht das jedes Jahr weiter. Also war die winzige Schuld zu einer Riesenforderung angewachsen, und der Knabe verließ den Gerichtssaal des Königs voller Angst.
Am Schlosstor sprach ihn wieder Salomo an und fragte: Wie war das Urteil des Königs? Der Jüngling erwiderte: Ich werde genötigt, für alles aufzukommen, was mein Freund, wie er sagt, an dem Ei verloren hat, und siehe, das macht eine große Summe aus. Da sagte Salomo: Höre auf meine Stimme; ich will dir einen guten Rat geben. Der Jüngling antwortete: Mögest du lange leben! Salomo sprach: Geh aufs Feld hinaus und mache dir an einem gepflügten Acker zu schaffen, an dem die Bataillone des Königs täglich vorbeiziehen. Nimm ein Maß gekochter Bohnen mit und wirf, wenn du die Truppen kommen siehst, eine Handvoll davon in die Erde. Wer dich nun fragt, was du tust, dem sage: Ich säe gekochte Bohnen. Fragt man dich dann: Wer hat denn je gesehen, dass man gekochte Früchte als Saat verwende?, so antworte: Wer hat je gesehen, dass aus einem gekochten Ei ein Küken werde?
Der Jüngling säumte nicht, diese Weisung zu befolgen, stellte sich an den bezeichneten Ort und streute den wunderlichen Samen in die Erdfurchen. Als die Söldner vorbeizogen, fragten sie den Knaben: Was machst du hier? Er antwortete: Ich will gekochte Bohnen zum Keimen bringen. Da meinten die Streiter: Hat man je gehört, dass Gekochtes weiter sprieße? Der Jüngling entgegnete: Hat man je gehört, dass ein gekochtes Ei sich zu einem Küken verwandle? Und jede vorbeiziehende Truppe stellte dieselbe Frage und erhielt dieselbe Antwort, bis die Geschichte zu den Ohren des Königs drang. Da ließ David den Jüngling abermals vor sich kommen und fragte ihn: Wer hat dir eingegeben, so zu verfahren? Der Knabe antwortete: Ich bin selbst auf den Ausweg verfallen.
David aber sprach: Ich erkenne die Hand Salomos in diesem Treiben. Da gestand der Jüngling die Wahrheit und sagte: Bei deinem Leben, mein Herr und König, dein Sohn Salomo hat diesen Rat ersonnen von Anfang bis zu Ende. Nunmehr ließ David den Prinzen rufen und sprach zu ihm: Wie fällt dein Urteil in der Sache aus? Salomo gab zur Antwort: Wie soll der Jüngling für Dinge einstehen, die man nicht als vorhanden ansehen kann? Ein Ei, das in kochendem Wasser gar geworden ist, kann nicht als ein künftiges Küken betrachtet werden. Hierauf sprach David zu dem Jüngling: Gib deinem Gläubiger nur ein einziges Ei zurück. Daher heißt es:
O Gott, gib dem König deine Gerichte, und deine Gerechtigkeit dem Sohn des Königs!
Psalm 72:1
Altjüdische Legende