Der Genuss dieser Welt

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Friedrich Weinreb in Vor Babel

Eigentlich genießt der Mensch diese Welt sehr. Er will hier nicht mehr weg. Manchmal denkt er zwar: Na ja, jetzt reicht es. Dieses Tränental hier im Leben usw., die Grausamkeit. Alles richtig. Aber das Seltsame ist, dass er, wenn es darauf ankommt, doch sagt: Es hat mit dieser Welt eine besondere Bewandtnis. Ich weiß nicht, was es ist und wie es ist und warum es ist, aber etwas in mir wehrt sich, solange ich noch Mensch bin und nicht von einem Dämon oder etwas Anderem besessen bin. Solange ich Mensch bin, will ich hier bleiben. Etwas in mir will es nicht anders, egal wie. Man sieht den Menschen in den schwierigsten Umständen, in Konzentrationslagern, das habe ich zumindest im Krieg gesehen, bei Krankheiten, da hätte er doch eigentlich sagen müssen: Na, da mache ich nicht mehr mit. Und doch ist etwas in ihm, das ihn treibt und sagt: Ich bleibe. Denn dieses Etwas in ihm kennt eigentlich die Quelle, kennt das Andere und weiß, dass das, was sich auf dieser Welt abspielt, einmalig ist. Was der Mensch hier hat und haben kann, dieser Kontakt mit Gott, ohne dass er eine Belohnung sieht, ohne dass er das Ergebnis sieht, dieser Kontakt mit Gott, der existiert! Der gibt ihm, was man >umsonst tun< nennt. Und das ist etwas so Großes, etwas, das ans Göttliche grenzt, dass der Mensch weiß: Nur hier ist so etwas möglich. Wie in den Psalmen gesagt wird: Nicht die Toten preisen Dich! Die Toten, das ist keine Kunst sozusagen, die sehen es, so oder so. Aber wir, die es nicht sehen, sondern es nur auf eine bestimmte Art von innen her wissen, wir sehen sogar das Gegenteil. Und obwohl wir dieses Gegenteil sehen, wissen wir, glauben wir, sind wir davon überzeugt, dass das Ganze gut ist und wichtig ist.
Darum dehne eben um des Körpers willen, um dieses >Esels< willen, der uns trägt, jede Sekunde aus, dehne sie aus, wie sie auch aussieht, man muss diese Sekunde voll ausschöpfen. Ja, wie es heißt: Eine Sekunde Leben – man nennt es dort keine Sekunde, sondern ein »rega«, 200-3-70, das ist noch weniger als eine Sekunde –, jedes »rega« Leben, das bewahrt wird oder genommen wird, kann bedeuten: den Untergang von Welten oder Welten, die bestehenbleiben. Im großen Reservoir des Lebens zählt eine Sekunde anders als für uns. Für uns ist eine Sekunde nichts, ein Schnippen mit dem Finger, und die Sekunde ist weg. Aber in diesem großen Reservoir des Lebens gelten andere Maßstäbe. Diese Sekunde, die bewahrt bleibt und bewahrt bleiben kann durch die Aufopferung von vielem, von vielen, die wiegt vielleicht viel schwerer als viele Stunden oder Tage oder Jahre. Diese Sekunde kann eine Bedeutung haben für die Existenz von Welten, für die Umwendung von allem, man weiß es nicht. Wieder >umsonst<. Man kann es hier nicht nachrechnen, nachzählen, aber etwas in dir sagt: Pass auf, dieses >Kleine< kann schrecklich wichtig sein. Halte es gut fest.