Der Weg von der Geburt zum erwachsenen Tier ist sehr kurz. Viele neugeborenen Tiere wie bspw. Lämmer, Kälber oder Fohlen müssen es schleunigst schaffen aufzustehen, um nicht zu verhungern. Und welche Mobilität erreichen sie innerhalb von Tagen! Betrachten wir dagegen einen menschlichen Säugling, sehen wir eines der hilflosesten Wesen der Erde, das ohne die Mutter viele Monate lang keine Überlebenschance hätte.
Je weiter eine Tierart vom Menschen (aus biologischer Sicht) entfernt ist, desto schneller reifen die Jungen heran. Der Weg von der Geburt bis zum Erwachsen-Sein ist kurz.
Bei den dem Menschen näherstehenden Tieren dauert der Reifeprozess etwas länger, aber trotzdem ist es gegenüber dem Menschen eine vergleichsweise kurze Zeit. Der lange Weg ist uns eingeschaffen. Jeder muss diesen langwierigen Reifeprozess durchlaufen, der um der Ausbildung des jeweiligen angelegten Potenzials nötig ist. Die Erlangung bestimmter Fähigkeiten dauert.
„Gut Ding braucht Weile“ oder „Was lange währt, wird endlich gut“, sagt der Volksmund und spricht damit aus, was man früher wusste: Für bestimmte Dinge gibt es keine Abkürzungen. Durchhaltevermögen ist gefordert und das muss man lernen. Geduld bedeutet nicht einfach nur abwarten zu können, sondern während des Wartens das Richtige zu tun.
Der Geduldige ist wie ein großes Gefäß, das viel Wasser aufnehmen kann. Das Gefäß bekommt dadurch Gewicht, wird wichtig, lässt sich nicht so leicht umstoßen und je größer das Gefäß ist, desto mehr kann man daraus schöpfen.
Ein griechisches Wort, das oft mit Geduld übersetzt wird und auch im NT vielfach anzutreffen ist, lautet hypomoné, das wörtlich unten drunter (hypo) verweilen (moné) bedeutet. „Lehrjahre sind keine Herrenjahre“, sagte man mir während meiner Ausbildungen und alle, die Ausbildungen durchlaufen haben, bedürfen keiner weiteren Erläuterungen.
Die Entwicklung des Tieres auf den Menschen zu übertragen, ist völlig sinnfrei, weil das Tier keinen langen Weg kennt. Derartige Annahmen führen automatisch zu Behauptungen, dass die gesamte Entwicklung mit unüberschaubaren Zeitangaben verbunden wird, in denen sie stattgefunden haben soll.
Die Annahme, dass ein Mensch nur ein weiterentwickeltes Tier sei, lässt das Empfinden entstehen, keine Zeit mehr zu haben und alles sofort haben zu wollen.
Neugeborene und Kinder sind keine Miniaturausgaben von Erwachsenen, sondern eigene Welten, die gesondert betrachtet werden. Sie entsprechen gewissermaßen einer „Welt vor Adam“, denn Adam ist doch das hebräische Wort für Mensch und dieser kommt nicht als Säugling in den Garten Eden. Von Adam und Eva heißt es, dass sie etwa 20 Jahre alt waren. Die 20 als Alter spielt auch beim Übergang von der Wüstenwanderung nach Kanaan eine entscheidende Rolle (Num. 32:11).
Das hängt auch mit dem 11. Buchstaben, der Kaf, zusammen, die den Zahlenwert 20 hat. Die Kaf steht für die geöffnete Hand, die bereit ist zu tun und verantwortlich zu handeln.
Direkt nachdem Adam im Garten Eden erscheint, bekommt er zwei Aufgaben, die er nur mit geöffneten Händen ausführen kann (Gen. 2:15): Er soll dem Garten dienen (EVED) und ihn bewachen bzw. ihn hüten (SCHOMER). Schnell könnte man hier denken, dass er eine Art Gartenarbeit machen soll, aber der Gan Eden wird auch OLAM HA-NISCHMOTH genannt, das ist die Welt der Seelen. Es geht hier nicht um das Bearbeiten der Erde, des Irdischen, sondern um das „Bearbeiten der Seele“ und deren Abschirmung gegen destruktive Einflüsse. Dazu braucht es einen erwachsenen Menschen, der alle Stadien des Reifens durchlaufen hat.
Man unterscheidet deshalb die Reife des Körpers von der Reife der Seele, die den Weg braucht. Das Tier wird als Entsprechung für den Körper, den GUF gesehen, weil die körperliche Selbstständigkeit relativ schnell erlangt wird. Der Mensch als solcher aber ist mehr als der Körper, er ist Ausdruck der Neschama.
In der Konzentration auf das Körperliche stagniert der Reifeprozess der Seele. In der Konsequenz bildet sich weder eine innere Stabilität noch ein Durchhaltevermögen. Man fürchtet sich dann vor Verantwortung und macht stattdessen andere für alle Widrigkeiten verantwortlich. In einem solchen Zustand besteht eine besondere Offenheit gegenüber den sogenannten Vorwelten, das ist die Dämonie. Wenn eine Generation nur noch das Körperliche achtet, unterwirft sie sich dadurch dem Vergänglichen. Angst und Sorgen ergreifen dann das Regiment und das Dämonische besetzt dann Bereiche, die ungeschützt waren, weil unvollendet und unausgereift. Barrieren stürzen ein und Dämme brechen – nicht jeder Durchbruch ist ein Befreiungsschlag.
Um seine Seele soll sich der Mensch kümmern, um deren Sicherheit bemüht sein; macht er das nicht, wird ihm im Gegenzug die äußere Sicherheit immer wichtiger. Sein Charakter bekommt dann tierische Züge, er wird schnell bissig und aggressiv, sobald er mit etwas nicht einverstanden ist und animalische Neigungen treiben ihn um – es ist ein großes Gesamtpaket, das frei Haus geliefert wird, sobald man das Innere verwahrlosen lässt.
Den Ungestümen sagte der britische Maler Francis Bacon einst:
„Wer keine Geduld hat, besitzt seine Seele nicht.“
Der lange Weg ist keine Strafe, sondern ein Geschenk, das die Seele liebt, weil ihr so ermöglicht wird sich zu entfalten. Dazu ist sie hier.