Das Loslassen der falschen Identität

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Könnte man den Menschen so sehen, wie er wirklich ist, würde man staunen ob seiner Erhabenheit, doch dann wäre er sofort schutzlos den Angriffen des nachasch (Schlange) ausgeliefert. Aus diesem Grund wird ihm für seinen Weg auf Erden ein Kleid gegeben, nämlich sein animalischer Körper. Dieses Kleid, diese Verkleidung nennt man im Hebräischen beged, 2+3+4, ein Wort, das uns auch die Eigenschaften des Kleides mitteilt, denn beged bedeutet auch ungläubig sein, kein Vertrauen aufbauen zu können und sogar die Zerstörung des Respektes, der dem Menschen gebührt. Das Ansehen der Person, das Achten auf das Äußere, wozu auch alle irdischen Qualifikationen zählen, führt – wie es das Wort bereits ausdrückt – dazu dem Glauben die Kraft zu nehmen, dem Vertrauen durch sichtbare Fakten (Kleid!) die Grundlage zu entziehen, die doch im Unsichtbaren und nicht im Sichtbaren liegt und den Respekt sowie die Ehre zu verweigern, die dem Ewigen des Menschen in seiner Ebenbildlichkeit Gottes gebühren, aber nicht der Person an sich.
Das alles gehört zu unserem Schicksal, solange wir hier im Körper gebunden sind. Es ist das Leben im 7. Tag – beged kann man auch „in der 7“ lesen. Bekräftigt wird es auch mit der 2, 3 und der 4 an sich, die auch die Essenz des Wortes Schabbath ist (300+2+400). Als Anagramm gelesen finden wir noch den Ausdruck „im Fisch“ (b’dag) z.B. in 1. Mose 1:26 und 28 wo davon die Rede ist, dass der Mensch „über die Fische herrschen soll“, wie es oft übersetzt wird. Wörtlich steht dort nichts von „über“, sondern von „in“, also in den Fischen, die das wechselwarme Leben in der Zeit darstellen. Für „herrschen“ steht in beiden Versen das Wort rada, 200+4+5, worüber Raschi sagt:

Dieser Ausdruck kann sowohl herrschen (rada) als auch sinken (jadad) bedeuten; erweist sich der Mensch dessen würdig, so soll er Beherrscher der Tierwelt sein, wo nicht so sinkt er zum Tier herab und das Tierische in ihm beherrscht ihn.

D. h., er soll über seinen Körper und dessen Triebe herrschen und sich nicht von diesen beherrschen lassen.
Im NT spielen die Fischer, der Fischfang und die Fischmahlzeit eine wichtige Rolle; einerseits hängt es mit dem Fischezeitalter zusammen, das ungefähr zu dieser Zeit seinen Anfang nimmt, andererseits trägt der Messias die Merkmale des Achten und damit der Wandlung des Körpers von einem vermeintlich festen Konstrukt zu einer „Form“, die nicht mehr an Raum und Zeit gebunden ist.
Der Angriff der Schlange richtet sich ausschließlich auf den zeitgebundenen Körper, der auch mit der nephesch, der Tierseele, verbunden ist, die man auch mit der Psyche des Menschen in Verbindung bringt. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist eine Situation, in die Joseph hineingebracht wird, ohne sich dieselbe gesucht zu haben. Potiphars Frau fühlt sich stark von Joseph angezogen und bittet ihn immer wieder „schichvá imí!“ (Liege bei mir!), und schließlich kann er sich nur noch aus der Situation befreien, indem er sein beged zurücklässt:

Und sie ergriff ihn bei seinem Kleid und sprach: Liege bei mir! Er aber ließ sein Kleid in ihrer Hand und floh und lief hinaus.

1. Mose 39:12

Joseph überlässt ihr das, was ihn falsch darstellte, seinen irdischen Ruhm, sein „so kennt man ihn“, „dafür halte ich dich“. „Kannst du gerne behalten!“, könnte Joseph gesagt haben. „Du kannst daran festhalten, wofür du mich hältst, ich pfeif‘ drauf und identifiziere mich nicht damit!“. Ebenso überlässt man dem nachasch, was des nachasch ist. Im NT finden wir eine ähnliche Situation, auch wenn es auf den ersten Blick um etwas anderes zu gehen scheint:

Wiederum nimmt der Teufel ihn mit auf einen sehr hohen Berg und zeigt ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und sprach zu ihm: Dies alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest.

Matth. 4:8-9

Interessanterweise widerspricht ihm Jesus nicht, denn er hätte doch antworten können: „Was, die Reiche der Welt (gr. kosmos) gehören dir doch gar nicht!“, aber er belässt es bei der Aussage des Satans und legt die Betonung auf das προσκυνέω (proskyneo), das gerne mit „anbeten“ übersetzt wird, eigentlich aber etwas anderes bedeutet. Der Satan verbindet das proskyneo mit dem „Niederfallen“, das vom Übersetzer etwas aufgepeppt wurde, denn es ist lediglich von „fallen“ (gr. peto / hebr. nophel) die Rede.
Die „Anbetung“ Satans ist immer an einen Fall gekoppelt, die Anbetung Gottes hingegen nicht, denn Letztere richtet den Menschen auf, wohingegen die Anbetung Satans den Menschen zugrunde richtet. Das im Text gebrauchte proskyneo bedeutet „zu etwas hin“ (prós) „küssen“ (kynéo), es geht demnach darum, „die Ehre durch einen Kuss zu erweisen“, was sich hinsichtlich unsichtbarer Entitäten etwas schwierig gestalten dürfte, weshalb man eine so bezeichnete Handlung meist auf eine Verbeugung reduziert. Anbetung kommt im Dt. vom Wort „beten“, das jedoch weder im Griechischen noch im Hebräischen an dieser Stelle des Matth.-Ev. verwendet wird.

Ehre und Respekt gebühren nicht dem irdischen Fortschritt, dem falschen Kleid, auf das wir uns selbst auch leider viel zu schnell reduzieren, sondern dem Unvergänglichen, dem Ewigen, der uns aufrichtet und erhebt, uns liebt und unser wahres Wesen kennt. Wenn ein Kind geboren wird, kleidet man es ein, weil man damit zum Ausdruck bringen will, dass nun der wahre und erlöste Mensch eine Zeitlang nicht erkannt werden wird. Die Schlange ist eifersüchtig auf den Menschen, doch wird sie durch dessen Verkleidung getäuscht und überlistet. Jede Hülle, jedes Kleid dient der Tarnung des Wesentlichen. Ebenso hülle man Erlebtes in Worte, die die eigentliche Qualität des Erfahrenen bedecken, man weigere sich, sich zu einem „Das ist so und nicht anders!“, hinreißen zu lassen.
Auf Portugiesisch heißt Kleidung roupa, ein Wort, das direkt mit unserem Wort Raub zusammenhängt (daher auch die Robe des Juristen). Ein Raub drückt eine gewaltsame Änderung der Eigentumsverhältnisse aus. Der Räuber denkt, das Geraubte gehöre nun „dank“ eines Gewaltaktes, der mitunter viel Mut und Kompetenz erforderte, ihm, ebenso denken wir vielleicht, dass uns dieses und jenes zustehe, weil wir geleistet haben. Ich verdiene zu wenig, man ehrt mich zu wenig, meine Qualitäten werden nicht gebührend gewürdigt!, zischt die Schlange im Menschen, all das hängt mit einem Raub zusammen. Wer die Quelle des Gegebenen ehrt, das ist der Schöpfer, wird auch mit dem bedacht, was für den Weg notwendig ist ohne es sich anzumaßen bzw. zu rauben. Solange ein Mensch sich dem Irdischen verschreibt und nach Berechnung handelt, weil ihm „alle Reiche dieser Welt“ versprochen werden, fällt er immer tiefer. Doch sobald er die falsche Identifikation mit seinem Äußeren fallen lässt wie ein Joseph sein Kleid, erlangt er schließlich eine Freiheit, die ihm kein anderer Mensch zuteilwerden lassen könnte.
Gott zu gleichen, muss man sich nicht gewaltsam aneignen wie einen Raub, denn wir wurden bereits als Menschen im Bild und Gleichnis Gottes geschaffen, und was Gott dem Menschen gibt, wird ihm niemand nehmen können außer der Mensch sich selbst, wenn er sich dem Irdischen, dem Leben in der Zeit unterwirft und sich davon beherrschen lässt.