Das Wort am Pranger – doch so war es nicht gedacht

Vor einigen Jahren verliebte sich ein mir bekannter junger Mann im Alter von ca. 16 Jahren in eine junge Dame, die dieselbe Schule besuchte wie er. Soviel die junge Frau ihm auch bedeutete, er brachte einfach nicht den Mut zusammen, sie persönlich anzusprechen. Nach langem Überlegen entschied er sich, ihr einen Brief zu schreiben. Darin offenbarte er ihr seine Gefühle für sie und umwarb sie in poetischer Manier mit liebreichen Worten. Nachdem er alles aufgeschrieben hatte, suchte er sie daraufhin in der Schule auf und übergab ihr diesen ganz persönlichen Brief. Sie war sehr überrascht, weil sie bis dato noch nichts mit dem Autor der Zeilen zu tun hatte und versprach, den Brief zu lesen.

Tags darauf betrat der Jugendliche das Schulgelände und war ganz auf die Reaktion des Mädchens gespannt. Zu seiner Verwunderung drehten sich viele der Schüler auf dem Schulhof zu ihm herum, zeigten mit dem Finger auf ihn und begannen zu grinsen oder ihn sogar auszulachen. Einer seiner Mitschüler brachte Klarheit in die obskure Situation. Weißt du, warum die dich auslachen? Nein, ich habe keine Ahnung! Du hast der XY einen Liebesbrief geschrieben, stimmt’s? Schweigen. Jetzt wurde dem jungen Mann ganz anders. Wie konnte sein Kamerad das wissen? Sie kann dich nicht leiden und dachte sich: Dem werde ich es mal so richtig zeigen! Und dann hat sie deinen Brief ans Schwarze Brett geheftet. So konnten es heute Morgen alle lesen.
Der junge Mann wurde bis ins Mark getroffen. Noch Jahre danach merkte man, was seine schriftliche Offenbarung bewirkt hatte, nicht weil die Adressatin seine Gefühle nicht erwiderte, sondern weil sie die ihr geltenden Gefühle eines anderen denen zugänglich gemacht hatte, denen sie nicht galten.

Ist die Bibel nicht ein Liebesbrief an uns persönlich, an dich und an mich? Natürlich kann man sie auch dem äußeren Sinne nach lesen, sie verallgemeinern, aber öffnen wird sie sich dadurch wohl kaum. Eine Liebesbeziehung bedeutet vorrangig nicht: Ich will wissen. Sondern ich habe den Wunsch, dir nahe zu sein, so nah wie möglich, will gerne tun, worüber du dich freust. Aus dieser Beziehung erwächst ganz von selbst ein Verhalten, das nicht auf diktiert ist, sondern von innen heraus zum Bedürfnis wird.

Schriftliches kann man herumreichen und analysieren, wie ein Pathologe eine Leiche seziert. Das Verrückte an diesem Vergleich ist, dass die medizinischen Fachleute für Leichen sich oft besser mit dem Körper auskennen als Mediziner, die Lebende behandeln. Ich habe bspw. einen Anatomiekurs für Humanmedizin an der Uni Gießen besucht, der von einem Prof. für Zoologie gehalten wurde. Da dachte ich mir: Sieh mal einen an, da hält ein Fachmann für Tiere die Vorlesungen für den Aufbau des menschlichen Körpers. Da wurde mir klar, dass man genau das macht, wenn man Sprache auf Grammatik reduziert. Wie herrlich kann man dann fachsimpeln, aber davon wird kein Text lebendig. So wie der Herr Professor glänzte mit exorbitantem Wissen über jedes einzelne Gefäß, jede Sehne und die kleinsten Nerven; ebenso gibt es auch Leute, die den Bibeltext bis ins kleinste Detail objektiv grammatikalisch bestimmen können. Auch das ist beeindruckend und man lernt so etwas gewiss nicht im Vorbeigehen. Aber was ist das für eine Art Beziehung? Wo ist die Seele?

Jeder kann dann hineininterpretieren, was er gerade will – Streit, Zank und Ärger gedeihen prächtig in diesem Nährboden. Verständlicherweise ist jede Übersetzung eine Interpretation, und das geht auch nicht anders, weil ein Übersetzer sich festlegen muss. Wer jedoch eine Übersetzung liest und keinen Zugang zum Original hat, ist gezwungen eine Interpretation (des Übersetzers) nochmals zu interpretieren, also mit dem eigenen Verständnis der Begriffe und deren Belegung abzugleichen und wundert sich dann, dass es im Laufe der Zeit zu immer mehr Widersprüchen kommt. Außer man begrenzt sich auf bestimmte Passagen; die anderen lässt man dann lieber weg, weil sie irgendwie stören.

Von David (דוד), dessen Name doch „Geliebter“ bedeutet, wird gesagt, dass er unsterblich war, weil er Tag und Nacht die Thora studierte. Psalm 1 ist nicht nur eine Beschreibung seines Lebens, sondern auch aller derjenigen, die sich von Gott geliebt wissen. In Vers 2 heißt es dort:

Sondern seine Lust hat in (der) Thora JHWHs (b’thorath HaSchem), und in seiner Thora nachsinnt Tag und Nacht!

In diesem Vers steht die Präposition „in“ und nicht „über“. Als Braut taucht man IN den Brief des Bräutigams ein und steht nicht darüber und analysiert ihn anhand „anerkannter“ Reglements. „Thora“ (תורה) kommt von jarah (ירה), das „lehren“ und vor allem das Schießen eines Pfeils bedeutet. So wie Amor seinen Pfeil schießt und der Mensch getroffen wird, berührt wird, seine Sehnsucht geweckt wird, so ist es um den geschehen, der vom Wort persönlich getroffen wird. Auf einmal pulsiert etwas im Menschen, ein Ich sucht ein Du und will nicht mehr ohne dieses Du leben. Das Schlüsselwort hierbei ist der Begriff Beziehung.
Der Zoologe kann sehr wohl menschliche Anatomie unterrichten und er hat, was den strikten Aufbau des Körpers angeht, recht. Ein Grammatiker kann die Bibel analysieren und auch er hat mit seinen Analysen gewissermaßen recht. Beide eint, dass sie zu den (Text)Körpern keine Beziehung haben müssen. Oder anders: Würden diese Körper plötzlich anfangen zu leben und aufstehen – wie wichtig wäre dann noch die Analyse? Wer liebt, versteht, ein Zwinkern genügt oft schon. David trägt es schon in seinem Namen. Eine Geschichte erzählt von seinem Tod, und gemeint ist damit auch, was passiert, wenn die Liebesbeziehung zur Thora bzw. zur Bibel stirbt:

Alle Tage hindurch saß David über der Lehre, und so war es auch an dem Tage, an dem er sterben sollte. Der Todesengel kam, er konnte aber David nicht überwinden, denn dieser unterbrach das Lesen nicht. Der Würgengel sprach bei sich: Was ist zu tun? David aber hatte einen Garten hinter dem Hause, in den schlich sich der Bote des Todes und machte die Zweige der Bäume rascheln. Da ging David hinaus, um zu erfahren, was das Geräusch bedeutete. Aber eine Stufe brach unter seinen Füßen entzwei; er hörte für einen Augenblick mit dem Hersagen der heiligen Worte auf und schwieg, und in dem Augenblick entwich seine Seele.
David starb an einem Schabbath zur Zeit des Nachmittaggebetes, und in dem Augenblick ward der Mond verdunkelt, und das Licht der mündlichen Lehre erlosch, und von dem Tag an mehrte sich der Streit um die rechte Auslegung der Thora. (Sagen der Juden)

So wie der junge Mann in der eingangs erzählten Geschichte sein Herz offenbarte, so offenbart Gott sich selbst in seinem Wort. An wen ist es adressiert? Und wie fühlt sich der Autor, wenn der Adressat sich darüber lustig macht oder für Streitigkeiten verwendet? Und wie jauchzt er, wenn auch nur ein einziger Mensch davon angerührt wird und nicht mehr genug davon lesen kann, weil er Gott immer näher kommen möchte!