Mit der Pubertät kommt das Verlangen nach dem Kuss, und darin drückt sich der Wunsch nach einem Kind aus. Auch wenn das oft nicht bewusst ist, ist das das zugrundeliegende Prinzip, das in der Bibel durch Rachel ausgedrückt wird. Sie ist die einzige Frau in der Bibel, von der es explizit heißt, dass sie von ihrem Mann geküsst wird.
Und Jakob küsste Rachel (Rahel)
1. Mose 29:11
Und Rachel ist auch die einzige Frau, bei der erwähnt wird, dass sie bei der Geburt ihres Sohnes stirbt. Das Zusammenfallen zweier einmaliger Erwähnungen in Bezug auf einen Namen möchte sagen – auch wenn es sich in unserer dreidimensionalen Welt nur selten direkt zeigt –, dass wenn eine Aufgabe erfüllt wurde, der Verfall dessen erfolgt, wodurch die Aufgabe vollbracht wurde. Rachels 2. Sohn (Benjamin) ist gleichsam die Erfüllung ihrer Aufgabe in der Zeit. Ihr Weg ist damit zu Ende, aber sie hat das erfahren, was jeder Mensch erfahren soll: Die Liebe im Verborgenen wurde Wirklichkeit in ihrem Leben – jedoch ganz anders, als sie es sich gedacht hatte, denn den Sohn, mit dessen Geburt ihr Ende beschlossen war, nennt sie zunächst Ben-Oni, übersetzt: Sohn (der) Schmerzen, der Trauer, aber auch der Kraft, denn es kostet einen Menschen viel Kraft das Leid in der Welt zu tragen und aushalten zu können. Je stärker ein Mensch liebt, desto tiefer ist sein Gefühl für Ungerechtigkeit und Leid. Es ist kaum zum Aushalten. Jakob nennt Ben-Oni in Ben-Jamin um, das ist der „Sohn von rechts“.
Und es geschah, als ihre Seele ausging (denn sie starb), da gab sie ihm den Namen Ben-Oni; sein Vater aber nannte ihn Ben-Jamin.
1. Mose 35,18
Die rechte Seite ist die Seite der Barmherzigkeit, welche die Kraft hat zu versöhnen. Die linke Seite ist die des Gesetzes, das unbarmherzig mit der Zeit einhergeht. „Finde dich damit ab, das Leben ist nun mal kein Streichelzoo!“, ruft die Seite, die die Liebe nicht kennt. Die rechte Seite setzt das irdische Leben, das nichts Bleibendes kennt, in Bezug zu dem Unvergänglichen, wodurch auch jeder einzelne Moment eine bedeutungsvolle Höhe erhält.
Wenn in unserem Leben das Draufhauen und das Besserwissen aufhören, hat die Umbenennung auch bei uns stattgefunden. „Ich will dir einen neuen Namen geben!“ (Jes. 62:2), gilt dann auch für uns. Und jetzt wird das Körperliche bei dir, durch welches du die Liebe erfahren durftest, wieder nach unten geführt. Es hat seine Bestimmung erfüllt. Bei den Pflanzen ist es nicht anders. Wie schön sind die Blüten mancher Pflanzen anzusehen und welchen Duft versprühen sie! Auch von Menschen sagt man manchmal, dass sie in der Blüte ihres Lebens stehen. Die Sprache führt uns zu den Geheimnissen unseres Daseins, wenn wir ihr aufmerksam folgen. Aber die Blüte vergeht, sie muss sterben, auf dass die Frucht kommen kann. Ebenso verändert sich der Körper des Menschen ab einem gewissen Punkt und zeigt unumwunden, dass die Linie nach unten geht, während es jedoch woanders aufwärtsgeht.
Es geht doch nicht um die Erhaltung des Körperlichen um jeden Preis, wodurch sich die ägyptische Gesinnung hervortut, sondern um das Erkennen der wirklichen Bedeutung des Körpers. Steht der Körper im Mittelpunkt des Lebens, bekommt man einen Pharao als Vorgesetzten, der viel Druck ausüben wird. Erkennt man die eigentliche Bedeutung des Körpers in seiner Fähigkeit zwei konträre Seiten miteinander zu verbinden, anstatt sich ausschließlich für eine auf Kosten der anderen zu entscheiden, überreicht der Pharao das Regiment einem Joseph, der die Frucht der Liebe (Benjamin) nach Ägypten fordert, weil alles bis ins Letzte erfüllt werden muss.
Ein Kuss, hebräisch nascheq, 50+300+100, ist, äußerlich betrachtet, ein Körperkontakt mit Ober- und Unterlippe. Die Oberlippe steht für den Himmel und die Unterlippe für die Erde. Man sucht gewissermaßen mit seiner eigenen Zusammenfügung von Himmel und Erde die gleiche Verbindung („Himmel und Erde“) beim Gegenüber. Im Finden dessen löst sich etwas im Menschen, wie es bei der ersten und einzigen Nennung eines Kusses zwischen Mann und Frau in der Bibel ausgedrückt wird:
Und Jakob küsste Rachel und erhob seine Stimme und weinte.
1. Mose 29:11
Die Stimme erhebt sich und der Mann weint. Das verwendete Wort für „erheben“ (nasa, 50+300+1) bedeutet neben „tragen“ auch „vergeben“. Wenn wir etwas aufheben und tragen, heben wir die direkte Verbindung der jeweiligen Sache zur Erde auf und tragen sie. Die Verbindung der Sache ist jetzt indirekt, weil wir „im Zwischen“ sind. Vergebung drückt sich dadurch aus, dass die direkte, scheinbar durch die Wahrnehmung offensichtliche Verbindung zur irdischen Kausalität entkoppelt wird, weil erkannt wird, dass es jemand anders im wahrsten Sinne des Wortes aufgehoben hat, so wie ein König die Macht hat, ein Urteil aufzuheben.
Jakobs Stimme erhebt sich, d.h. dass er in Rachel nicht nur irgendeine Frau, sondern DIE Frau erkennt, die mit ihm eine Einheit bildet. Er erkennt ihre wirkliche Herkunft und dass sie – wie ihr Name schon sagt (Mutter des Lammes) – auch den Erlöser hervorbringen wird. In diesem Licht nur kann ein Kuss näher begriffen werden. „Ich habe das gefunden, wodurch die Erlösung in meinem eigenen Leben konkrete Wirklichkeit wird“, könnte Jakob ausgerufen haben. Wie groß ist die Freude, wenn ein Mensch so etwas erleben darf! Der Wunsch nach dem Kuss steht in seiner lautmalerischen Bedeutung im Deutschen auch für das Verlangen der beiderseitigen Begegnung des “gehauchten Atems”, den man früher Odem nannte und der in direktem Zusammenhang mit der “Hauch-Seele”, der göttlichen Seele (neschamah) steht. Hiermit öffnet sich noch eine andere Ebene, die in einer körperlichen Begegnung mitkommt und weshalb eine solche weit mehr als etwas Mechanisch-Organisches darstellt. Eigentlich kommt es zum direkten Kontakt zweier Seelen, die dann unmittelbar aufeinander einwirken. Angesichts dessen ließ man von Alters her bewusst oder unbewusst Vorsicht bei körperlichen Begegnungen walten. Ein Mensch kann hierbei intensiv vom Himmel berührt werden, aber auch genau das Gegenteil erleben.
Ein Kuss wird in der Überlieferung immer als Zeichen dafür gewertet, dass man dem anderen ein Leid zufügt, ohne es zu wollen. Jakob küsst Rachel, als er ihr am Brunnen begegnet, und Rachel stirbt jung, sie stirbt zu früh. Das Küssen wird in der Überlieferung aber trotzdem als Notwendigkeit betrachtet. Es ist eigentlich das Essen vom Baum der Erkenntnis, auch das, was man unter dem Geschlechtsakt versteht. Es ist eine Notwendigkeit: „Seid fruchtbar und mehret euch“, doch zugleich gilt das Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen. Und durch den Kuss zwischen der »chabazeleth« [Blume] und dem König entsteht die »schoschana« [Rose], entsteht die Welt der Zweiheit, die Bewegung: Der Weg beginnt. (…)
Weinreb, Das Opfer in der Bibel
Auch diese Welt ist erst durch Verbannung entstanden. Nach der Überlieferung geschieht die Erschaffung des Menschen durch einen Kuss Gottes. „Kuss“ ist einerseits das Verlangen nach Einswerdung, andererseits zugleich Verrat. Denn man verurteilt das Andere dadurch zum Tod: Jakob küsst Rachel. Mit dem Kuss ist das kommende Kind gemeint, und das kommende Kind macht Vater und Mutter überflüssig. Es verdrängt sie. Es kommt eine andere Zeit, eine andere Welt. So wird also der Kuss immer als Verrat angesehen. »Nascheq«, 50+300+100 = 450, küssen; das ist 10 x 45 (»adam«, 1+4+40). Dieser Kuss erschafft eigentlich den Menschen. Doch Adam ist der Mensch hier Unten, wodurch die Verbannung entsteht. Mit jedem Kuss ist, als äußerste Konsequenz, das »pru urewu«, „seid fruchtbar und mehret euch“, gemeint, also doch die 500, die aber gleichzeitig auch das Vergehen im Strom der Zeit und somit auch den Tod enthält.
Die Überlieferung erzählt, dass Jakob und Rachel für die tiefste Liebe stehen, die Menschen füreinander empfinden können. Der Verlust Rachels verursacht dann in Jakob gleichauf den größten Schmerz, der durch ihren gemeinsamen Sohn Joseph etwas gelindert wird. Joseph verliert bereits als Kind seine Mutter und ist schon dann der „Tröster des Witwers“ (Radak), obwohl es doch eigentlich umgekehrt sein müsste. Diesen Tröster verliert Jakob später auch noch – wer kann hier noch von einer Gerechtigkeit sprechen? Des Menschen Zunge erlahmt ob solchen Leides! Und wie maßlos ist in den Augen eines Menschen diese Ungerechtigkeit, die in der Geschichte von Jakobs Familie erzählt wird? Die Befreiung aus Ägypten beginnt mit einem Kuss, der in seinem Zahlenwert 450 ergibt (50+300+100), das auch das Produkt aus 9 x 50 ist, also die Geburt (9) dessen, der die Zeit überwunden hat (50).
Nur durch das Durchbrechen der vermeintlichen Grenze, die uns die Zeit setzt, erfährt der Mensch Ruhe und Freiheit von innerlicher Angst. Etwas aus einer zeitlosen Wirklichkeit muss den Weg hierher finden, muss konkret werden – dazu ist uns der Körper gegeben, auf dass etwas in unserem Leben hervorkommen kann, dass den Pharao nicht bekämpft, sondern ihn in eine Situation bringt, dass er aus freien Stücken das Regiment abgibt und darauf verzichtet.
Und das ganze Land Ägypten hungerte; und das Volk schrie zum Pharao um Brot. Da sprach der Pharao zu allen Ägyptern: Geht zu Joseph; was er euch sagen wird, das tut!
1. Mose 41:55