Der Weg des Lebens und seine Begleiter

Die Bedeutung des Leviathan für unseren Lebensweg.

Im Wort Leviathan ist das Wort Levi enthalten. Auf den ersten Blick würde man sagen, dass es zwischen diesen beiden keine Verwandtschaft gibt. Der Leviathan ist ein undefiniertes oder sehr vage beschriebenes Etwas, das auf den ersten Blick nur zeigt, dass es sich um eine im Meer lebende Kreatur handelt. Gewöhnlich wird der Begriff mit Drache, Seeschlange und dergleichen übersetzt (siehe z.B. Jes. 27; Ps. 74, Ps. 104, 26; Hiob 3, 40).
Um zu verstehen, was der Leviathan wirklich ist, und auch um die Geschichte zu verstehen, dass am Ende der Zeit der Leviathan gegessen wird, muss man sich zunächst einmal die Bedeutung des Wortes selbst genauer ansehen. Leicht zu erkennen ist der Wortstamm Levi.
Was aber hat nun Levi mit Leviathan gemeinsam?

Wir wissen vom Stamm Levi, dass er eine sehr spezifische Funktion in der Geschichte der Wüstenwanderung innehat, denn vor der Wanderung spielte Levi keine besondere Rolle. Es waren Joseph und Juda, die eine Rolle spielten. Nach dem Weg durch die Wüste sind es gewöhnlich die anderen Stämme, die in den Vordergrund treten.
Josua war aus dem Stamm Ephraim, Saul von Benjamin, David stammt von Juda usw. Es ist also so, als ob der Stamm Levi nur – und in besonderer Weise – in der Geschichte der Reise durch die Wüste hervortritt, denn dort ist es tatsächlich Levi, der das Sagen hat. Mose, Aharon und Miriam stammen aus Levi, und diese drei spielen die entscheidende Rolle.
Der Weg durch die Wüste ist nichts anderes als eine göttliche Mitteilung darüber, wie eine bestimmte Seite unseres Lebens verläuft. Ägypten steht für Sklaverei, das alte Heidentum, die Alte Welt; hiervon und hieraus wurde der Mensch erlöst.
Weder die Großartigkeit der eigenen Erkenntnisse, noch das Niveau des eigenen moralischen Lebens bewirkten diese Erlösung. Die Sklaverei hatte den Menschen auf ein ungesundes niedriges Niveau gebracht, und der Überlieferung nach stand das Volk in jener Zeit am Rande des völligen moralischen Untergangs.
Die Erlösung aus Ägypten erfolgte ohne jeglichen Verdienst. Vielmehr entwickelte sich alles so, dass die Erlösung umso unwahrscheinlicher wurde, je näher der Moment derselben kam. Die Unterdrückung wurde immer heftiger, die Machtlosigkeit näherte sich dem Beispiellosen, und selbst in kühnsten Phantasien war zu diesem Zeitpunkt eine Erlösung nicht vorstellbar.
Und gerade dann, wenn die ganze Logik vom Untergang überzeugt ist, wenn die Anziehungskraft des Ursprungs gleich null ist, dann scheint der Moment der Erlösung plötzlich ganz anders zu kommen, als man gedacht hat, nämlich gerade von einer Seite, von der man es überhaupt nicht erwartet hat. Von hier kommt die Erlösung, und jede Erlösung, die nach der Schöpfung kommt, hat den gleichen Grundgedanken in sich wie die Schöpfung selbst, nämlich eine Erlösung aus den alten Welten.

Die Geschichte der Erlösung aus Ägypten wird unter anderem deshalb so ausführlich erzählt, weil ihr das Prinzip von Erlösung überhaupt innewohnt. Deshalb ist diese Form der Erlösung auf einer anderen Ebene gewissermaßen identisch mit der Schöpfung und auch mit der Geburt jedes einzelnen Menschen. Das niederländische Wort für Erlösung (verlossing) bedeutet loslassen, verlassen – man verlässt eine Welt, so wie ein Kind durch die Geburt das Innere des Mutterleibes verlässt. Eine Hebamme heißt in Holland verloskundige, sie ist dem Begriff nach eine Kundige der Erlösung.
Das Ziel dieser Erlösung ist das Kommen nach Kanaan. Und dieses Ziel war schon vor der Sklaverei versprochen. Es handelt sich also um eine kommende Welt, deren Besiedelung bereits feststeht, weil sie längst in früheren Welten in einem anderen Zustand – also im Kern – stattgefunden hat. Der Weg zwischen Ägypten und Kanaan ist jetzt der Weg zwischen Geburt und Ankunft in die verheißene Welt. Es ist auch der Weg der Welt zwischen der Schöpfung und dem was man das Ende der Tage nennt.
In Ägypten hat man rein körperlich Genugtuung und Befriedigung in der Zweiheit, hat Ruhe und nutzt sie. In der Wüste muss man – dann ist man Seele, befreit vom Körper – damit umgehen, leidet darunter; man weiß, dass man wählen muss, die Alternative drängt sich immer wieder auf. Es gibt also auch Zweiheit, aber jetzt mit Unruhe.
Jetzt will man das eine oder das andere. Einerseits entsteht der Wunsch in die Zweiheit der Ruhe, also nach Ägypten zurückzukehren, andererseits ist man aber auf dem Weg zur „1“, die man fürchtet und trotzdem irgendwie sucht, weil man in sich spürt, dass sie das Ziel ist. Die Seele leidet in Ägypten, sie leidet sehr. In der Wüste ist die Seele frei, hat aber immer noch die Wahl: zurück in den Körper oder den Weg in die andere Welt des Jenseits fortsetzen. Für die Menschen Ägyptens war dieses Problem in der Tat schwerwiegend. Denken Sie an das ägyptische Totenbuch mit der detaillierten Beschreibung der Reise nach dem Tod, nach der Trennung des Körpers.
Genauso wenig wie wir verstehen, dass Sünde und Gnade eigentlich beide für ein anderes großes Ganzes notwendig sind, ist es mit den Konzepten des freien Willens und der Prädestination. Für uns sind das immer zwei gegensätzliche Dinge, und es ist unmöglich, in diesem Widerspruch eine Einheit zu sehen. Das ist eigentlich auch der Schmerz in der ägyptischen Sklaverei. Sobald wir als Seelen, als Kerne, in Ägypten anfangen, über diese Dinge nachzudenken, also im Land der Zweiheit, so wie der Name Ägypten im Hebräischen „Mizrajim“ eigentlich das Leiden durch die Zweiheit, das Leiden durch die Opposition bedeutet, kommt das Leiden, weil wir immer auf eine unlösbare Sache stoßen.
Jedes Mal steht die Sphinx an der Weggabelung vor uns und präsentiert uns das große Rätsel, das Rätsel des Lebens und den Sinn der Welt. In Ägypten wird dieses Rätsel nicht aufgelöst. Solange eine Person oder eine Menschheit in Ägypten lebt, leidet sie, weil es dort normalerweise nur Widerspruch geben kann. Übrigens kann der Körper nur aufgrund dieses Widerspruchs existieren, denn alles, was wir als physisch kennen, existiert aufgrund eines Widerspruchs. Die Bausteine der Materie, die Atome, bestehen aus einem Kern, der positiv ist, und umkreisenden Elektronen, die negativ sind. Die Spannung zwischen diesen beiden, die Gegenüberstellung, lässt das Atom existieren. Würden Kern und Elektronen gleich werden, würde die Substanz explodieren und es gäbe „nichts“.
Die Materie kann also nur in Ägypten existieren. Ägypten ist typischerweise Ausdruck der Materie, und so wie die Materie, das Körperliche, der Körper die Seele einsperrt, so sperrt das biblische Ägypten Israel ein und lässt es in Knechtschaft leiden. Wir sehen den Zustand des Lebens in Ägypten so deutlich in unserem eigenen täglichen Leben. Die Seele gewöhnt sich daran, dass sie eingesperrt ist, dass sie dem Gesetz des Körpers unterworfen ist, ja schließlich den Körper gar nicht mehr verlassen will, gleichwie Israel mit Gewalt aus Ägypten herausgeführt wurde, regelrecht herausgeworfen werden musste, weil es sonst nicht gehen wollte. Der Körper lässt die Seele trotz aller Schläge und Schmerzen, die er erfährt, nicht los. Detailliert wird über die Plagen erzählt, die Ägypten heimsuchten, um es zu zwingen, die Seele loszulassen. Diese Plagen sind nichts anderes als der Lauf des Lebens, die Entwicklung über die Jahre in jedem menschlichen Leben und auch im Leben der ganzen Welt. Für Eingeweihte ist an bestimmten Ereignissen zu erkennen, wo sich dieses Leben gerade befindet, indem sie in den Spiegel der Geschichte Ägyptens schauen.
Daher konnte es Ägypten nicht fassen, dass der Moment der Erlösung genau dann war, als es genau andersherum aussah. Die Macht des Körpers über die Seele wuchs mehr und mehr, und der Körper glaubte, die Seele vollständig im Griff zu haben. Der Gegensatz zwischen Beherrschern und Unterdrückten zeichnete sich aus der Sicht der materiellen Logik immer deutlicher ab; so deutlich und klar – und das ist ergreifend –, dass der vermeintliche Gegensatz auf einer anderen Ebene als Einheit zutage tritt. Eine Einheit, die die auf der Wahrnehmung beruhende Logik nicht erkennen kann. Sobald diese einseitige Logik beginnt, die Einheit der Welt zu beschreiben – was aus diesseitiger Sicht niemals erkannt werden kann –, zeigt sich einerseits die Neigung auf diese Weise zu mehr Selbstbewusstsein zu gelangen, andererseits wird dadurch etwas im Menschen genährt, das in ihm das Verlangen nach Beherrschung der Welt entstehen lässt.
Sobald jemand behauptet, auf seine Weise die Lösung für Fragen des Schicksals und des Laufes dieser Welt zu kennen, ist er in Wirklichkeit jemand, der gierig vom Baum der Erkenntnis isst und Gottes Platz einnimmt.
Nicht selten meinen genau diese Menschen von sich, dass sie demütig und bescheiden seien, auch ist deren Mund voll des Lobes über die Macht Gottes.
In Ägypten, auf der Höhe des Denkens und auf der Höhe der Erkenntnis, kann man nur die Hälfte der Dinge wissen, und die andere Hälfte bleibt verborgen. Wenn der Mond tatsächlich zum Vollmond gewachsen ist, d.h. das Wachstum abgeschlossen ist, könnte man sagen, dass jetzt der ganze Mond sichtbar ist; in Wirklichkeit ist dann nur die Vorderseite sichtbar und die Rückseite bleibt unsichtbar.
Genau auf diesem Höhepunkt kommt die Wende, denn dann beginnt der Mond ins Nichts zu verschwinden. So ist es bei jeder menschlichen Eroberung, bei der man glaubt, das Ziel erreicht zu haben. In dem Moment also, in dem logischerweise der Untergang in Ägypten vollzogen werden musste, scheint die Erlösung wirklich „wie ein Dieb in der Nacht“ zu kommen.
So sehen wir viele Dinge um uns herum, Dinge, von denen wir im Voraus wissen, dass die Erlösung bereits anwesend ist. Theoretisch denkt man zum Beispiel an den Schrecken des ersten Menschen, der den Tag in den Abend und die Nacht übergehen sah. Dann dachte er, dass die Welt untergehen würde, dass alles sterben würde, und der Mensch befand sich natürlich in einem schrecklichen Zustand der Panik. Genau an dem Punkt, an dem die Nacht am tiefsten war, und tatsächlich musste logischerweise geschlossen werden, dass nun alles kalt werden und sterben musste, genau an diesem Punkt begann sich das Ganze in sein Gegenteil zu verwandeln und der Morgen kam.
Beim zweiten Mal wird der Mensch den Abend mit etwas weniger Angst kommen sehen, und wenn er dies mehrmals erlebt hätte, wüsste er bereits in der Zukunft, dass nach dieser Dunkelheit das Licht wieder durchbrechen würde. In gleicher Weise wird der Mensch das erste Kommen von Herbst und Winter als ein ängstliches Untergangsphänomen gesehen haben; die Natur begann zu sterben, die Tage wurden kürzer, kurz gesagt, ein Untergang – jetzt definitv – schien in jedem Gebiet zu kommen, und auch das wiederholte sich jedes Jahr, und nach dem Winter kam immer wieder der Frühling.
Diese Erfahrungen sind für die Menschheit so selbstverständlich geworden, dass ein normaler Mensch nicht mehr ängstlich ist, weder wenn der Abend kommt, noch wenn der Herbst einkehrt. Der Mensch jedoch macht sich dort Sorgen, wo er den Zyklus noch nicht kennt. Das alles schließlich zum Ursprung, zum Vater, zurückkehrt, ist den meisten Menschen noch nicht in Fleisch und Blut übergegangen. Wenn man Zeiten der Degeneration und des Niedergangs sieht, wird man ängstlich und kommt logischerweise zu dem Schluss, dass alles unweigerlich schief gehen muss. Genauso logisch ist es, dass die Nacht, wenn sie einmal gewachsen ist, weiter wächst. Es ist völlig unlogisch, dass nach dem Höhepunkt der Nacht wieder der Morgen kommt.
Wir erklären den Tag-Nacht-Rhytmus, der doch der Logik des ungebremsten Wachstums widerspricht, durch die Umlaufbahnen der Himmelskörper im Weltall und begreifen nicht, dass Gott alles auf diese Weise macht, auch den abweichenden Mensch oder den verlorenen Sohn, der den großen Weg zurücklegt und schlussendlich wieder nach Hause zurückkehrt. Weil wir dieses Muster nicht kennen oder anerkennen wollen, erkennen wir auch in Zeiten eines offensichtlichen Niederganges nicht die Kraft des Ursprungs, des Vaters, der nun alles wieder zu sich zurückzieht, auch jedes einzelne Menschenleben. Sobald der Mensch sein körperliches Leben verfallen sieht und seine Kräfte schwinden, sieht er unaufhaltsam das eigene Ende kommen. Natürlich kann er noch schöne Reden halten und sogenannte Worte des Glaubens sprechen, aber im Wesentlichen hat beinahe jeder Mensch Angst vor seinem Ende.
Naturgemäß ist der Tod unausweichlich, und in der Tat gibt es ein anderes Leben und einen anderen Ort, um zu erkennen, dass der Tod ganz anders ist als das, was wir uns in unserer Zweiheit, in unserem Denken in Gegensätzen vorstellen. Wir sehen den Tod als Gegensatz des Lebens. Aber erst die Einbeziehung dieses Gegensatzes macht aus dem Leben ein Ganzes. Das ist für unseren Verstand nicht begreifbar.
Diese Befreiung aus Ägypten bedeutet also auch eine Befreiung von der Notwendigkeit, in Gegensätzen zu denken. In der Wüste kann man den Weg nach Kanaan gehen, dem Land, das gemäß seinem Zahlenwert gegenüber Ägypten 1 ist; was in Ägypten Zweiheit war, ist also in Kanaan zur Einheit geworden. Deshalb steht auch das Wort „Kanaan“ (in der Summer seiner hebräischen Zeichen 190) als 1 gegenüber der 2 von „Ägypten“ (in der Summer seiner hebräischen Zeichen 380). Der Weg durch die Wüste ist jetzt der Weg der Wahl; in der Wüste kann man nach Ägypten oder nach Kanaan gehen. Man ist bereits erlöst worden, steht aber immer noch dem alten Ägypten gegenüber und schielt nach ihm trotz des Leidens und des begrenzten Denkens in Begriffen des Entweder-Oder. Sobald man sich mit der Materie identifiziert, fängt diese Welt an, sehr anziehend auf uns zu wirken.
Bspw. kennen wir das Gesetz der Schwerkraft, welches alles einbezieht. Auch ein Flugzeug, wenngleich sich über der Erde fortbewegend, fliegt aufgrund der Schwerkraft. Es ist ein Prinzip, das der Schöpfung von Anfang an mitgegeben wurde.
Ebenso durchdringt das biblische Ägypten die gesamte Materie und macht sie sehr attraktiv, also anziehend. Diese Kraft wirkt sehr stark auf das ausgezogene Volk und es ist leicht verständlich, dass immer wieder der Wunsch entsteht zurückkehren zu wollen. Trotz all dessen was man erlebt hat! Man braucht nicht mit dem Finger auf das Volk in der Bibel zu zeigen. Das Streben zurück ist in jedem Menschen und in der ganzen Welt vorhanden. Es zeigt sich bereits darin, wenn wir keine Veränderung wollen und Angst vor Neuem haben.
Ägypten war vertraut und bekannt und Kanaan genau das Gegenteil. So schön auch die Geschichte der Kundschafter war, sie erzählt auch von einer ganz anderen Welt, die man nicht kannte und von der man dachte, dass man unmöglich dort leben könnte.
Das ist die Struktur unseres Lebens. Der Mensch erkennt zwar, dass Kanaan das Ziel ist, doch eigentlich zieht es ihn viel mehr nach Ägypten. Könnte er frei wählen, würde er sich unwiderruflich für die Rückkehr nach Ägypten entscheiden.
Und nun kommt die Sonderstellung Levis in der Wüste. Wegen der Führung von Moses und Aharon ist das Volk tatsächlich gezwungen, gegen seinen Willen nach Kanaan zu gehen. Egal, wie sie auch schreien und rebellieren, ja sogar Mose steinigen wollen, kurz gesagt, auf jede erdenkliche Weise Widerstand leisten, sie werden zuweilen geradezu durch harte Maßnahmen gezwungen, nach Kanaan zu gehen.
Menschlich gesehen ist es also niemand anders als der Stamm Levi, der die Menschen durch die Wüste führt, und das Wort „Levi“ bedeutet nichts anderes als „geführt“; Levi ist der Begleiter, der als Elternteil das Kind zur Hand nimmt und es, auch wenn das Kind dagegen ankämpft, dorthin bringt, wo das Geschöpf hin muss.
Das Kind empfindet diesen Weg als unangenehm, will in seine alte Heimat zurückkehren und glaubt, dass es im Neuen, wohin es jetzt gehen wird, das Schlimmste erleben wird.
In der Wüste hat der Mensch die Alternative, die Wahl, wie wir sie im Leben immer haben. Mit jeder Handlung, die wir tun, haben wir eine Wahl getroffen; selbst wenn wir nichts tun, haben wir eine Wahl getroffen, denn wir haben uns dazu entschieden nichts zu tun. Es gibt eigentlich nichts auf dieser Welt ohne eine Wahl. Diese Welt, dieser 7. Tag in der Schöpfung, ist so gesehen nichts anderes als eine Welt der Wahl, eine Welt, in der man sich für das alte Heidentum entscheiden kann oder für einen Weg, der uns durch die Erlösung gegeben wurde. So wie der Stamm Levi diese Wahl geradezu erzwingt (und es ist eine Gnade Gottes, dass der Mensch schließlich dort landet, wo Gott ihm zuvor versprochen hatte, dass er hinkommen würde), so ist es auch mit der Bedeutung des Leviathan. Von ihm wird erzählt (siehe Jes. 27), wie er am Ende der Tage getötet wird. Auch Mose, Aaron und Miriam, alle drei vom Stamm Levi, kommen nicht ins gelobte Land. Sie bleiben in der Wüste. Andere übernehmen die Aufgabe, das Volk nach Kanaan hinüberzubringen.
Den Leviathan können wir besser verstehen, wenn wir berücksichtigen, dass am 5. Schöpfungstag die „tanninim“ geschaffen wurden, und das ist der Leviathan. Das ist also die Grundlage der Form, die schließlich durch uns belebt wird.
Das, worauf unsere Form ruht, ist eigentlich der Leviathan, und die Form ist die, die uns durch dieses Leben führt – dieses Leben der Wahl, ein Leben, das genau genommen nach der Erlösung kam. Diese Form ist es, die uns zwingt, den Weg durch dieses Leben, diese Wüste, zu gehen.
Gerne möchten wir jung bleiben, erfreuen uns an Gedanken über die ganz Jungen und zeigen damit wie wir uns von Ägypten und der Erde anziehen lassen, sogar bis in den Zustand von vor der Geburt.
Das Heidentum kannte als Ideale auch die jungen Figuren. Jede heidnische Tendenz manifestiert sich auch in der Tendenz, die Jugend zu verherrlichen, der Jugend besondere Rechte zu geben und das Alter als notwendiges Übel zu betrachten; dies widerspricht eklatant dem biblischen Denken, dass die Jugend immer Schüler ist und nur dem sehr alten Mann einen Platz gibt, den ein Mensch sich in diesem Leben verdienen könnte. Diese Neigung, jung zu bleiben, und Angst vor dem Alter zu haben, Angst vor den ersten grauen Haaren, ist etwas, das bei jedem Menschen praktisch selbstverständlich ist.
Gleichwohl zwingt ihn die Form seinen Weg zu gehen und wohl oder übel geht er durch dieses Leben und wird alt. Dann, wenn die Form ihre Aufgabe erfüllt hat, wenn Moses an der Grenze der kommenden Welt steht, sieht er beim Abschied das gelobte Land, und dann bleibt der Führer bis ans Ende der Tage dort. So wird auch der Leviathan am Ende der Tage aus diesem Leben genommen und dient als Nahrung für die Erlösten, die in die kommende Welt kommen.
Er wird schließlich ein Teil der Erlösten werden und in das gelobte Land kommen. Es ist die große Mahlzeit, die letzte Mahlzeit, und der Leviathan wird verspeist. Das, was uns geführt hat, was eigentlich außerhalb von uns war, kommt jetzt in uns und bleibt. Die Form wird jetzt ein Teil von uns selbst. Nicht ein Teil, das uns wieder verlassen kann, sondern bleibend zu uns gehört. Das ist die Geschichte des Leviathans, und das kommt auch in dem Gespräch zwischen Gott und Hiob zum Ausdruck. Hiob bittet seine Freunde um eine Erklärung für sein Leiden. Seine Freunde suchen nach der Ursache in diesem Leben und geben Hiob die Schuld. Hiob selbst kann diese Aussage nicht akzeptieren, weil er sich keinen Reim darauf machen kann, dass ihn trotz möglicher Sündhaftigkeit genau dieses schreckliche Leiden plagt und dass andere, die ebenso oder sogar noch sündiger sind, kein Leiden erfahren. Am Ende greift Gott in das Gespräch ein und fragt Hiob, ob er nicht erkennt, dass dieses Leben eigentlich ein zweiter Teil eines Buches ist, von dem er den ersten Teil nicht kennt und daher nicht weiß, was mit den Hauptfiguren in diesem ersten Teil vor sich geht, und aus diesem Grund meist völlig falsche Schlüsse zieht. Wenn er dies wüsste, würde er verstehen, dass es gerade um des Geführten willen ein erzwungenes Gehen durch dieses Leben mit Hilfe eines Begleiters ist.
Genauso ist die Geschichte des Fisches von Jona zu verstehen, der bereit war, Jona zu fangen und welcher Jona an den Ausgangsort zurückbringt, zu seinem Ursprung, von wo er gerade geflohen war. Dieser Fisch ist auch der Leviathan, der den Menschen aufnimmt und wohl oder übel an den Ort der Einheit zurückbringt, wo er ursprünglich herkommt, während der Mensch an einen ganz anderen Ort fliehen will.
Der Name Levi, der Begleiter bedeutet, und sich in der Führung von Moses und Aharon auf der Reise durch den siebten Tag ausdrückt, findet sich auch in anderen Sprachen in typischer Weise wieder. So erkennen wir im Niederländischen und noch stärker im Deutschen eine Verwandtschaft zwischen Leiden und Leiten (leiden und lijden in NL). Sprachwissenschaftlich und in der Aussprache sind beide Wörter im Niederländischen gleich (im Deutschen ähnlich, aber von der gleichen wurzel kommend), aber in der Praxis macht man einen großen Unterschied zwischen ihnen. Niemand würde behaupten wollen, Führen sei identisch mit Leiden. Denn die Führer der Welt sind im Grunde genommen keine Führer, sondern Verführer, die den Weg nach Ägypten weisen. Führer, die es dieser Welt nur bequem haben wollen, die so tun, als gäbe es nichts anderes als eine bleibende Jugend, und dabei einfach ignorieren, dass es ein Jenseits gibt, und dass jeder Mensch eine sehr große Entscheidung zu treffen hat, leiten den Menschen letztlich von seinem Ziel weg. Sie sind nichts anderes als die Kräfte des „erew raw“, des gemischten Volkes, das mit ihnen Ägypten verlassen hat und immer wieder nach Ägypten zurückkehren wollte.
Wirkliche Führer hingegen machen das Gleiche mit wie es uns von den Führern aus Levi durch die Wüste erzählt wird. Aus menschlicher Sicht ist es ein fortdauerndes Leiden. Sie werden gesteinigt, gejagt, auf alle mögliche Weise verfolgt und deshalb gibt es in den germanischen Sprachen diese Beziehung zwischen Leiden und Leiten. Ein moderner Führer wird diese Verbindung leugnen; auch wird er sich selbst empfehlen. Echte Führer haben Angst vor der Führungsrolle, weil sie intuitiv wissen, dass echte Führung eine Vielzahl von Leiden mit sich bringt. Man denke an Saul, der sich bei der Wahl des Königs versteckt, an David, der sich im Hintergrund aufhält und vor allem an Mose, der Gott sogar widersteht, als er ihn am brennenden Dornbusch zum Führer machen will.
Es ist ein Gesetz in dieser Welt, dass ein wirklicher Leiter und Begleiter durch diese Welt erniedrigt und verfolgt wird. Ein wirklicher Führer wird und kann daran erkannt werden. Typen wie Hitler, Stalin, Mussolini, die in ein paar Jahren ganze Völker mitreißen können, beweisen genau dadurch, dass sie keine Führer sind, denn wenn die Welt jemanden auf diese enthusiastische Weise nachläuft, muss zwangsläufig viel falsch sein. Wir wissen von echten Führern, welches Schicksal ihnen das Volk gebracht hat. Die Tatsache, dass diese Führer Gott so nahe standen, dass sie sozusagen von Angesicht zu Angesicht mit ihm sprachen, bringt als Gegenseite gerade die Rebellion der Menschheit gegen diese leidenden Leiter hervor.

Freie Übersetzung eines niederländischen Textes Friedrich Weinrebs, der mir durch Abel Weinreb zur Verfügung gestellt wurde.

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Autor: Dieter Miunske