Die Ägypter der Bibel sind keineswegs gottlose Atheisten, die über das Unsichtbare spotten. Pharao, die oberste Instanz dort, hat ein ganzes Kompetenzteam um sich herum, das er immer wieder zurate zieht, um Klarheit für seinen und den Weg seines Volkes zu erhalten.
Da rief auch der Pharao die Weisen und die Magier; und auch sie, die Wahrsagepriester Ägyptens, taten so mit ihren Zauberkünsten.
2. Mose 7:11
Pharaos Ratgeber hatten alle eines gemeinsam: Sie glaubten, dass die Natur das Höchste ist und Gott sich ausschließlich durch sie zeigt. Man muss die Zeichen nur erkennen und zu deuten wissen. Während die einen nur Fakten aufzeigten, verstanden sich die anderen auf Naturgötter. Deshalb wird gesagt, dass Pharao nur an Gott mit dem Namen Elohim glaubt (ELOHIM hat im Hebräischen denselben Zahlenwert wie der Ausdruck „die Natur“, HA-TEBA, also 86).
Wenn es um Gott mit dem unaussprechlichen Namen geht, weiß Pharao nicht, von wem die Rede ist.
Und danach gingen Mose und Aaron hinein und sprachen zum Pharao: So spricht JHWH, der Gott Israels: Lass mein Volk ziehen, damit sie mir ein Fest halten in der Wüste! Da sprach der Pharao: Wer ist JHWH, auf dessen Stimme ich hören soll, um Israel ziehen zu lassen? Ich kenne keinen JHWH, und auch werde ich Israel nicht ziehen lassen.
2. Mose 5:1-2
JHWH? Wer soll denn das sein? Gibt es dafür Beweise?
Gott als Elohim hat im ersten Schöpfungsbericht ein Alleinstellungsmerkmal. Mit Beginn des 2. Schöpfungsberichtes wird der Name JHWH zum ersten Mal erwähnt, und in diesem Zusammenhang wird fast nebenbei eine Aussage gemacht, die den Gott Israels von dem Gott der Ägypter unterscheidet: KI LÓ HIMTIR, übersetzt: „Denn Er hatte noch nicht regnen lassen.“
Wenn die Söhne Jakobs nach MIZRAJIM kommen, werden sie mit einer Welt konfrontiert, die keinen Regen kennt. Dafür ist das biblische Ägypten bekannt. Alles ist dort vom JE’OR MIZRAJIM, vom Strom Ägyptens abhängig. Man übersetzt JE’OR mit Strom oder Fluss, aber eigentlich bedeutet das Wort „er leuchtet“ oder „er erleuchtet“. Wir finden diesen Ausdruck z.B. auch in 4. Mose 6:25. Dort wird er als „er lässt leuchten“ übersetzt. Die Thora zeigt damit an, dass der Strom, der Fluss Ägyptens für das Leben in Ägypten alles bedeutet. Er spendet Wasser und Licht zugleich. Licht im Sinne von Sinngebung und Lebensfreude, die nicht „von oben“ abhängig sind. Lebendigkeit, Lebensunterhalt, alles strömt nur durch diesen Fluss zum Menschen.
Der IVRI kennt in erster Linie die Abhängigkeit vom Himmel, der MIZRI dagegen kennt keine Beziehung zu jemandem, der es mal regnen lässt und mal nicht – was wäre denn das für eine Willkür! –, er hat alles selbst in der Hand. Abhängig zu sein von einem Unsichtbaren, der sich nicht berechnen lässt, ist geradezu lächerlich.
Das Wasser kommt in Ägypten nur dorthin, wohin man es leitet, und immer folgt es den Naturgesetzen, der Schwerkraft, geht immer tiefer, fließt immer weiter hinab. Alles kommt und geht und kennt kein Zurück, keine Umkehr. Alles muss eine erklärbare Ursache haben, wir müssen den Dingen nur auf den Grund gehen, dann werden wir alles verstehen und noch besser nutzen können.
Wie der Strom, so geht es auch mit dem MIZRI immer tiefer hinab. Keine Kraft zieht ihn nach oben. Das Leben mag reicher werden, aber nicht einfacher und von Erfüllung, die anfangs noch phasenweise punktuell auftritt, weiß man irgendwann gar nichts mehr. Mit jeder Antwort öffnen sich unzählige neue Fragen.
Ägypten steht auch für die Wiege der irdischen Wissenschaft, die dort zur höchsten Religion mutiert. Gleichsam gedeiht dort eine Form der Esoterik, die meint, das Geheimnis hinter dem Walten des Universums erkannt zu haben. Die Ausübenden denken, zu wissen, wie das Universum „tickt“ und wie man es für die eigenen Zwecke und Wünsche nutzen kann. Und das ist durchaus keine heiße Luft. Bis zu einem gewissen Grad ist der Erfolg fast garantiert, wenn man sich nur den Gesetzen des Stromes unterwirft.
Pharao liebt diese Welt, in der es keine Wägbarkeiten gibt. Für alles hat er Experten, die Meister ihres Genres sind. Diese sind es auch, die ihm anzeigen, dass jemand geboren wird, der die ihm so nützlichen Hebräer aus seinem Reich befreien wird. Moment, das würde ja bedeuten, dass die Stabilität Ägyptens gefährdet würde. Das geht natürlich nicht! Seine Anordnung an die Hebammen, die kleinen hebräischen Buben zu töten, setzen diese nicht um und hinzu kommen Probleme in der Analyse der Erkenntnisse der Astrologen. Auf Pharaos Frage, ob es denn nun ein Hebräer oder ein Ägypter sei, der als Befreier geboren würde, sagen sie: „Ja, hm, es scheint einerseits ein Hebräer, aber andererseits auch ein Ägypter zu sein.“ Pharao, der die Eindeutigkeit liebt, missfallen solche ungenauen Aussagen und so befiehlt er kurzerhand, alle neugeborenen Jungen in den Fluss zu werfen, auch die ägyptischen.
Jocheved, Moses Mutter, konnte aufgrund der restriktiven Umstände des korrupten Staates mit seinen ganzen Kontrollmechanismen und dem gegenseitigen Sich-Verraten den Jungen nicht weiter verstecken und baute ihm eine TEVÁH, das man hier mit Körbchen übersetzt, obwohl es dasselbe Wort ist, das auch für Noachs Arche verwendet wird. Dieses legte sie in das Schilf des Ufers. Hier kommt es zu einer seltsamen Verkettung von Umständen.
Zunächst einmal versucht Jocheved dem Erlass des Pharaos tatsächlich entgegenzukommen, indem sie ihr Kind zum, aber nicht in das Wasser bringt. Ihr Handeln erinnert an das neutestamentliche „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist“ (Math. 22:21). Sie nimmt die Anordnung des ägyptischen Pharao jedoch nicht so genau. Anstatt zu werfen (SCHALACH שלך) legt sie das Körbchen ab (SUM שום). Und sie legt es auch nicht ins Wasser, sondern an den Rand in das Schilf. Dort wird es von Pharaos Tochter, Batjah, gesehen, die „rein zufällig“ dabei war, ein Bad im Fluss zu nehmen. Den Eindruck erhält man zumindest, wenn man den übersetzten Text liest. Der Grund, dass Batjah genau zu dieser Zeit an den Fluss kam, war jedoch nicht der der körperlichen Hygiene. Das hebr. RACHAZ (רחץ) meint „ein Eintauchen zur Erlangung der Reinheit“ und in diesem Fall entspricht Batjahs Handeln einer MIKWE, die mit der Taufe des NT vergleichbar ist. Es geht um das Abwaschen der Unreinheit, die durch die Berührung mit dem Tod gekommen ist. Pharaos Tochter, so die Überlieferung, kehrte sich von der Gesinnung Ägyptens ab, die sie tagtäglich in den Regierungskreisen im Hause Pharaos miterleben musste. Sie ist davon angewidert.
Das Bad im Strom Ägyptens wird als Ausdruck dieser Abkehr verstanden. Im selben Moment, als sie eintaucht, wird aus dem „Strom der AVODA SARA“ (Fluss der Abgötterei) ein heiliger Strom, woraufhin das Körbchen, worin Mose liegt, zu rutschen anfängt und ins Wasser gleitet. Erst jetzt sieht es Batjah nach ihrem Auftauchen. Pharao erhält indessen von seinen Weisen die Mitteilung, dass gemäß ihren Visionen der Erlöser im Fluss sei und somit keine Gefahr mehr bestehe. Als Batjah den kleinen Findling mit in das Haus des Pharaos brachte, war für diesen klar, dass das nicht der Erlöser sein konnte.
Seine Berater sehen quasi die ganze Geschichte, aber die Schlussfolgerungen sind immer falsch. Die Idee, die Jungen in den Fluss werfen zu lassen, war ebenfalls aufgrund einer begrenzten Logik entstanden, denn die Astrologen sagten dem Pharao, dass der Erlöser geboren sei, er aber durch das Wasser ernsthafte Probleme bekommen würde. „Was, dieser vermeintliche Befreier hat ein Problem mit dem Wasser, unserem guten Fluss also? Na, da werden wir ihn einmal mit unserer Lebensquelle konfrontieren!“
Dass Mose wegen eines ganz anderen Wassers in Schwierigkeiten geraten sollte (in MERIBA, siehe Ex. 17:7), konnte sich der Pharao nicht herleiten. Am Ende hat Pharaos Beraterstab ganze Arbeit geleistet. Der Erlöser schien erfolgreich eliminiert, doch tatsächlich weilte er längst unter ihnen, unerkannt und nicht ihre Gesinnung teilend.
Einige Sitzungen hatte es gegeben, und nur hochrangige Leute wurden in die verschlossenen Räume des ägyptischen Königs zugelassen. Wie viel Macht geht von geheimen Sitzungen aus, was mutmaßt man alles und wie viel interpretiert man herein? Ist das heute anders? Wohl kaum. Es war alles notwendig, es musste genau so kommen, denn hätte Jocheved sich ohne Pharaos Erlass von ihrem Sohn getrennt? Jede Mutter kennt die Antwort. Jocheved aber wird durch ihre Lebenssituation gezwungen, zu erfahren, dass es einen Gott gibt, der sogar die Natur lenkt und auch diese Gesetze einfach mal aussetzt, wenn es sein muss. Als IVRI wusste sie, dass Wasser auch von oben kommt, und die Dinge auf der Welt von dort her ihre Form erhalten. Dieses Vertrauen war so stark in ihr, dass sie keine Angst vor den Anordnungen des Königs hatte (Heb. 11:23), doch wendete sie eine gewisse List in der Einhaltung an. Sie war klug genug, ihn nicht zu provozieren oder in irgendeiner Weise gegen ihn vorzugehen. Auch ging es ihr nicht um menschlich nachvollziehbare Ansprüche im Sinne eines „Hauptsache mein Kind kommt durch“, sondern sie ahnte, dass er zu etwas anderem berufen war, dass er von Gott ausersehen war, und so konnte sie ihn auch Gottes Fürsorge überlassen.
So gelangt Mose in alle Bereiche und erhält genau die Ausbildungen, die seine Feinde zu seiner Zerstörung einsetzen wollten, doch im Gegensatz zu ihnen verstand er, wie die Dinge zusammenhängen. Stephanus drückt es in seiner Rede so aus:
Und Mose wurde unterwiesen in aller Weisheit der Ägypter; er war aber mächtig in seinen Worten und Werken.
Apg. 7:22
Auf diese Ausbildung Moses bezieht sich die Unsicherheit der Berater Pharaos in Bezug darauf, ob der Befreier nun ein Hebräer oder ein Ägypter sei, denn sie konnten nicht ahnen, dass beides richtig ist. Ägypter kennen nur das Entweder-Oder. Mose aber ist dieser und jener, er ist Entweder-Und-Oder, er ist diesseitig und jenseitig. Das sind die Merkmale des echten Erlösers. Von dort her kommen das wahre Licht und die wahre Erleuchtung.