Das Buch Jona hat mehrere Ebenen. Es offenbart uns auch die Besonderheit der Erinnerung unserer Herkunft, sobald wir mit unserem eigenen Tod konfrontiert sind. Das Urteil über Ninive wird von Gott als unwiderruflich verkündet. Es wird nicht gesagt, dass Ninive verschont werden würde, auch wenn es „tschuva“ tut (umkehrt), sondern es wird verkündet, dass Ninive unwiderruflich nach 40 Tagen, d. h. am Ende der Zeit, untergehen wird.
Wenn etwas oder jemand sein Alter erreicht hat, nimmt man es hin, dass die Dinge ihren Gang gehen, wenngleich man sich darüber nicht unbedingt freut, am wenigsten vielleicht, wenn es einen selbst betrifft. Nicht nur auf Mensch und Tier bezogen sagen wir „Seine Tage sind gezählt“, sondern auch bei Pflanzen, insbesondere bei der Ernte wartet man regelrecht auf die Reife, die dann auch das Ende des Wachstums bei bestimmten Sorten markiert. Dass etwas am Ende der Zeit untergeht, wird allgemein akzeptiert und nicht infrage gestellt, gewissermaßen finden wir sogar eine zugrunde liegende Logik dahinter, die dann mitunter „der Kreislauf des Lebens“ genannt wird.
Jona wird nicht nur als Einheit von Mann und Frau gesehen (er trägt auch einen weiblichen Namen), sondern er steht auch für die Verbindung der 2 mit der 1. Das ist das Kennzeichen dessen, der der Welt des Zeitlichen, die nur das Erscheinende kennt, ihr Ende vorhersagen soll. Das widerstrebt Jona auf nachvollziehbare Art und Weise, denn ihm ist bekannt, dass es keinen absoluten Untergang gibt, sondern nur Übergänge. Er weiß, dass die 2 nur dazu da ist, um wieder in die 1 zu münden. Gott schafft keine sinnlose sich selbst verlierende Welt. Dem nach unseren Sinnen grausam erscheinenden Naturgesetz steht das „Gesetz der Gnade“, wie man es nennen könnte, gegenüber. Gott hat die tschuva (Umkehr) in jeden Menschen hineingelegt, Jonas Name zeugt schon davon, er bedeutet doch „Taube“. Eine Taube ist der Vogel, der immer wieder an seinen vertrauten Ausgangspunkt zurückkehrt. Es ist also eigentlich eine Lüge, wenn man nur sagt: „Die Welt geht unter“, oder: „Auf das Leben folgt der Tod“, oder: „Ninive geht nach 40 Tagen unter.“ Jona im Menschen weiß, dass es nicht die volle Wahrheit ist. Der Verstand weiß das nicht. Deshalb weigert sich Jona, die Lüge zu erzählen, genauer gesagt, die „unvollständige“ Wahrheit zu sagen, d.h. nur eine Seite von zwei darzulegen.
Es ist wie beim Menschen, der sich weigert, den Alltag zu erledigen, die gewöhnlichen Taten zu tun, weil er nur die Nichtigkeit, die eine Hälfte, die Unwahrhaftigkeit dieser Welt sieht. Schon wenn ein Mensch sich selbst die Frage stellt: „Wozu mache ich mir eigentlich all die Mühe? Es vergeht doch ohnehin alles und über kurz oder lang wird sich noch nicht einmal jemand an mich erinnern!“, dann hört er Jona in sich selbst, der keinen Sinn für das Leben Ninives hat. Trotzdem muss der Mensch hier so leben, wie ihm das Leben gegeben ist, und nicht fragen. Nicht umsonst hat Gott den Menschen und die Welt so gemacht, und es ist gerade das Vorbeigehen am Baum der Erkenntnis, wenn man tatsächlich tut, was einem vor die Füße kommt und so diesen Weg geht.
Man sollte nie sagen, dass das Irdische unwichtig ist, dass es sowieso keinen Sinn macht; man sollte beherzt handeln, Taten vollbringen und nicht besser wissend die Weisheit ausstoßen, dass ohnehin alles anders ist. Gott hat den Menschen in diese Welt gesetzt, um blind zu handeln, um zu helfen, aufzubauen, ja sogar um situativ zu erlösen, ohne sich selbst in den Vordergrund zu stellen. So wird er die na’aseh we-nischma erfüllen (wir werden tun und [dann] hören / verstehen). Würde man das Leben hier nicht anpacken, sich nicht getrauen, dann würde die eine Hälfte der zwei Seiten des Lebens unerfüllt bleiben. Indem wir das Leben und damit unser Schicksal annehmen, anerkennen wir auch das Verhältnis und die Notwendigkeit der beiden Bäume inmitten des Gartens zu Beginn der Bibel. Die beiden Hälften drücken sich im Verhältnis der 1 zur 4 aus.
Natürlich weiß der Mensch, wie auch Jona, dass es eine andere Seite gibt, aber er darf sein Handeln nicht so gestalten, als ob er diese andere Seite bereits kennen würde, denn das wäre der Baum der Erkenntnis. Er muss in dieser Welt für diese Welt leben, denn nur so kann er sie erlösen. Würde Jona mit der ganzen Wahrheit herausrücken, dann würde er die Ankündigung des Unterganges sofort beschwichtigen und sagen:
„Ach, das ist alles halb so wild, es wird schon alles gut! Die Welt ist nur eine große Fake-Veranstaltung, ist weiter nichts als eine Scheinwelt, die keinen tieferen Sinn hat und vergehen wird, aber ich kann euch sagen, dass Gott barmherzig ist und die Sache in etwas ganz Wunderbares umschlagen wird!“
So stimuliert, hätte Ninive weitergemacht wie vorher und sich noch weiter von Gott entfernt. Sorge und Angst gehören in diesem Zusammenhang zu den Mitteln, sich wieder rückzubesinnen und sich neu an Gott zu hängen.
In dem ihm vor Augen stehenden Untergang will der Mensch mit Gott in Frieden sein, wie man sagt. In der unabwendbaren Konfrontation mit dem Tod erinnert sich der Mensch seiner Herkunft und klammert sich auf einmal fest an Gott. Dieses Verhalten wurde in ihn hineingelegt. In dieser Situation empfängt er „die halbe Botschaft“ des Jona. In der Welt der 1, der männlichen Welt, weigerte sich Jona, doch in der Welt der 2 muss er gehen. Das ist auch die Geschichte des Menschen, der zwischen beiden Welten steht. Durch sein Tun soll er zum Verstehen kommen, nicht durch Belehrung, die in dieser Hinsicht einem Entblößen des Geheimnisses gleichkäme.
Dem Menschen bleibt keine andere Wahl, als das Naturgesetz zu akzeptieren und danach sein Leben einzurichten, auch wenn ihm tagtäglich die Vergänglichkeit der Welt vor Augen steht. In Ninive, der vergänglichen Welt, zählen die Taten (Jona 3:10), diese machen den Unterschied. Jona ist verdrossen von dieser Ungereimtheit Ninive den Untergang anzudrohen, also zum „Untergangsprophet“ zu werden, während Gott sich plötzlich erbarmt und als der Gnädige „zuschlägt“. Dadurch würde Jonas Drohen mit dem sicheren Untergang doch ins Lächerliche gezogen und Gott alleine würde die Ehre zuteil.
Jona zeigt uns, wie wir es gerne hätten: Das Richtige tun, aber bitte schön dafür auch die Lorbeeren einheimsen und nicht nach vollendeter Tat als begossener Pudel dastehen. Er und Onan, die ersten Männer Tamars, waren auch bereit viel zu tun, doch nur wenn ihr Name genannt werden würde (bzw. auf das Kind übergeht – Stichwort „Schwager-Ehe“). Das jedoch wurde ihnen verwehrt und deshalb waren sie von vornherein nicht bereit, ihrer eigentlichen Aufgabe nachzukommen.
Bei Jona verschärft sich die Situation sogar noch: Er sollte nicht nur auf sämtliche Ehre verzichten, sondern obendrein wider besseres Wissen die unumkehrbare Vergänglichkeit vor Augen führen. Er war doch Gottes Prophet, wusste genau, wie die 2 Welten miteinander verwoben sind, doch er durfte dieses Wissen nicht weitergeben. So gestaltet sich die Aufgabe des Menschen: Er soll genau wie Gott aus Liebe und Mitleid agieren und selbst wenn er hohe Erkenntnisse und Einsichten hat, diese ignorieren, schweigen und handeln wie ein Narr vor der Welt. Dann ist er Teil der gesamten Erlösung und wird somit zum Mit-Erlöser. Die Erlöser der Bibel sind in den Augen der diesseitig Anerkannten während ihres Tuns oft nichts weiter als Narren (siehe 1. Kor. 4:10).
Es ist das Merkwürdige im Menschen, dass er meist gerne helfen und erlösen will, aber nur wenn sein Name draufsteht, er das Copyright hat und alle sehen wie toll er doch ist. Wie sehnt er sich danach, geehrt zu werden und auf dem Treppchen zu stehen, während alle applaudieren. Das ist das Drama Jonas, des Mannes, der als Kind durch Elia aufgeweckt wurde, der die Gene der Wahrheit in sich trägt, beide Welten in sich zur Einheit verbunden hat, dass er schließlich zu einer Art Anti-Held wird, der trotz der hohen Offenbarungen Gottes dasteht wie einer, der Lügen erzählt. Das heidnische Ninive, das so tief gefallen ist, kehrt um, aber diese Umkehr ist die Folge der Verkündigung des Unterganges, des Todes. Im Angesicht des Todes zerbricht die Frechheit und das Gefallene kehrt um, die Wahrnehmung nur einer Seite wird aufgehoben und die andere Seite wird auf einmal erkannt. Dem unbarmherzigen Gesetz der Natur steht das „Gesetz“ der Gnade gegenüber, die das Urteil des ersten Richtspruches für ungültig erklärt.
„Ach, dann ist ja doch alles gut“, könnte man jetzt leichtfertig schlussfolgern. Das würde bedeuten, dass man Ninive außerhalb von sich selbst sieht. Dass Ninive eine Realität in uns ist, werden wir erkennen, wenn wir das nächste Mal Angst haben und Sorgen uns beginnen umzutreiben, sobald wir mit unserer Endlichkeit konfrontiert werden. Doch dann könnte die Taube Jona, die uns Angst macht, die Erinnerung in uns wachrufen, wozu wir eigentlich auf Erden sind.
Das Buch Jona wird im Brauchtum nicht irgendwann, sondern am 10. Tag nach Neujahr im jüd. Kalender gelesen. Es ist dann Jom Kippur, der Tag der Versöhnung, der höchste Feiertag, es ist der Moment, in dem alles heimkehrt. Jeder Mensch kehrt zurück und lebt aufs Neue. Jona und Jom Kippur sind nicht voneinander zu trennen.
Jona erhält an simchath beth ha-schuva (Sukkoth) den Auftrag nach Ninive zu gehen. Das fällt mit dem Ende der 3 regalim zusammen (die drei Reisen nach Jerusalem: Pessach, Schavuoth [Pfingsten] und Sukkoth [Laubhütten]), worauf die Ankündigung des Todes als unumgängliche Tatsache und das anschließende Wunder der Erlösung folgt. Das alles fällt in die Zeit von Jerobeam II, der der 13. in der Reihe ist und der 41 Jahre regierte. Wenn man diese Zusammenhänge ignoriert und allgemeingültig formuliert, ist es wie die Entnahme eines wichtigen Organs aus einem lebendigen Organismus, woraufhin beide absterben.
Der Verdruss Jonas ist nicht etwas, worüber man sich erheben sollte, sondern es ist die (Ver-)Stimmung in uns allen, sobald wir bemerken, dass unser Name nicht die Glorifizierung erhält, die wir uns vielleicht wünschen, sondern Gott die Ehre gebührt, weil er alleine imstande ist, die Last der Ehre zu tragen.
Basiert auf Aussagen F. Weinrebs in niederl. Sprache