Die deutsche Sprache bringt es leider mit sich, dass die Schlange der Bibel, die im hebräischen Original männlich ist, zur Frau wird. Dadurch wird der Erzählung in 1. Mose 3 die Grundlage des Verständnisses wirksam genommen. Demzufolge verwende ich in diesem Text das hebr. Wort für Schlange, also Nachasch (נחש). Der folgende Text ist eine freie, aber inhaltliche adäquate Übersetzung eines Kommentars von Naphtali Zvi Yehuda (Berlin, 1816-1893).
Und der Nachasch war listiger …: Raschi erklärt im Namen des Midrasch Rabba, dass der Nachasch eifersüchtig auf das erste Paar war, als er sie das erste Mal miteinander kopulieren sah. Durch diesen Anblick entwickelte sich bei ihm das Verlangen Eva für sich zu gewinnen, er begehrte sie. Hier begegnet uns etwas Außergewöhnliches, denn normalerweise begehrt jedes Lebewesen nur seine eigene Art, wie es im Traktat Bava Metzia 91b steht: „Seine Art – es wird von seiner Art angezogen.“ Auch ermangelte es dem Nachasch nicht an einem Weibchen seiner Art und das Zuschauen beim körperlichen Einswerden anderer beunruhigte ihn auch nicht, denn er kennt keine Scham. „Das ist doch das Normalste auf der Welt.“ Schließlich paarte er sich mit einer Schlangendame auch so, dass es alle sehen konnten. Die Eifersucht des Nachasch bezieht sich nicht auf die körperliche Handlung an sich, sondern es wird erklärt, dass er bemerkte, wie das Menschenpaar regelrecht aneinanderhängt, auch wenn sie keinen körperlichen Kontakt hatten, es sich quasi „immer“ liebt, und das kannte er nicht. Bei ihm war die Anziehung nur während der Zeit der Erregung spürbar und nach der Kopulation war es wieder sachlich und kalt zwischen den beiden.
Bei den Menschen sah er, wie sehr die Frau an dem Mann hängt, weil sie nicht separat als Individuum, sondern aus ihm geschaffen wurde. Die Frau besteht aus demselben Knochen und demselben Fleisch wie der Mann, Außen und Innen sind eine Einheit:
Und der Mensch sprach: Diese ist nun Gebein (ezem, 70+90+40) von meinen Gebeinen und Fleisch (bassar, 2+300+200) von meinem Fleisch; (…)
1. Mose 2:23
Die Anhänglichkeit untereinander ist damit noch größer als bei Bruder und Schwester, die auch aus demselben Geblüt stammen und ebenso wie „ein Fleisch“ gesehen werden. Aber sie sind trotzdem nicht wirklich so wie die erste Frau zu Adam, der wie ein Glied zu seinem Haupt war. Diese besondere Form der Beziehung erweckte den Neid des Nachasch. Und siehe da, die Sache ist klar, dass der Nachasch nie selbst gesprochen hat. Denn wenn er ursprünglich gesprochen hätte, aber verflucht wurde, stumm und schweigsam zu sein, warum wird dieser Fluch nicht erwähnt? Außerdem hängt das Sprechen von der Intelligenz ab, wie Raschi erklärt: „Und so wurde der Mensch eine lebendige Seele“ (1. Mose 2:7) – [nämlich] mit Sprache und Intelligenz.
Und auch Onkelos übersetzt: „Mit einem sprechenden Geist“. Siehe, der Mensch war einzigartig in dieser Tugend. Allerdings war es das Sternbild des Nachasch, das sich in Eifersucht kleidete und zu dieser Zeit aus dem Hals des Nachasch sprach. So wie jede Spezies von allem, was erschaffen wurde – sogar die botanische – ein eigenes Sternbild hat; und das ist der Engel, der auf diese Spezies angesetzt ist, um sie zu beschützen und wachsen zu lassen, damit sie nicht aus der Welt verschwindet. Und das ist so, wie die Weisen, möge ihr Andenken gesegnet sein, sagten: „Du hast keinen [Grashalm] unten, ohne dass sein Sternbild oben ihn anstößt und zu ihm sagt: Wachse!“. Und das Sternbild des Nachasch war wie [der Nachasch], denn es war eifersüchtig auf das Festhalten des Menschen an seinem Schöpfer, möge Er gesegnet sein. Und es ist genau so, wie wir im vorherigen Abschnitt erklärt haben, dass Adam sich so sehr an Gott klammerte, wie ein Teil, der sich immer nach seiner Quelle sehnt [von der er ausgegangen ist]; was bei einem Engel nicht der Fall ist. Ein solcher ist einfach getrennt und klammert sich nicht an Sein Licht, möge Er gesegnet sein, außer zu der Zeit, die für den Gesang und Ähnliches vorgesehen ist. Und der Engel war eifersüchtig auf Adam, und der körperliche Nachasch auf seine Frau. Und [über] das, was alles nicht in der Schrift erklärt wird, hat schon der Ramban in Paraschat Bechukotai geschrieben – und wir haben es schon früher gebracht (Ha-Amek Davar zu Bereschit 1:1) –, dass die Thora über Dinge, die nicht von jedem begriffen werden, nur durch Andeutungen spricht. (Soweit dieser Kommentar.)
Ein anderer Kommentar besagt, dass Evas Offenheit gegenüber dem Nachasch daraus resultiert, weil sie durch die Begegnung mit Adam im Gegensatz zu ihm nicht befriedigt wurde, aber eine solche suchte. Adam hingegen war eingeschlafen und so waren beide getrennt. Diese Situation nutzt der Nachasch aus, auf diese Gelegenheit hat er nur gewartet. Das bedeutet, dass unser Inneres sehr schnell Momente der Befriedigung und der Befreiung erleben kann, weil dort alles auf „den Kern“ konzentriert ist. Das Äußere dagegen bezieht das ganze Äußere ein, das ist der gesamte Körper, es ist der Kreis um den Kern, der mit der Ausdehnung verbunden ist. Der Körper ist an Raum und Zeit gekoppelt und damit im Verhältnis zum Inneren, zur Seele, sehr träge. Äußere Wunden heilen nicht in Sekunden und eine normale Schwangerschaft braucht ca. 40 Wochen, bis der kleine Körper geboren werden kann. Die Seele dagegen kann blitzartig Einfälle oder Träume haben, sie sieht durch die Welten und vernimmt feinste Nuancen einer Stimmung, aber ohne Körper hat sie hier auf Erden keinen Weg und damit auch keine Möglichkeit der Veränderung.
Wir stehen alle in einer permanenten Auseinandersetzung zwischen Innen und Außen, zwischen Seele und Körper – beide haben unterschiedliche Bedürfnisse, die wir immer wieder bei uns selbst neu verhandeln müssen.
Zurück auf das Ausgangsthema kommend wird die Sucht nach dem Sehen körperlicher zwischenmenschlicher Beziehungen als Ausdruck für die SehnSucht nach wirklicher Liebe verstanden, die zurückgeht auf die ursprünglichste Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf, die ausschließlich auf bedingungslosem Vertrauen basiert und keinerlei Berechnung kennt. Je weiter sich der Mensch von seiner Quelle entfernt hat, indem er alles auf seine Weise erkennen und bestimmen wollte, desto unfähiger wurde er, Liebe zu spüren und im Vertrauen zu leben. Trotzdem bleibt er ein Geschöpf im Bilde und Gleichnis Gottes, der ohne diese Beziehung niemals in den Zustand der Freude, des Glücklich-Seins und der Angstlosigkeit kommen kann. Solange er sich jedoch über seinen eigenen Ursprung lustig macht, ist er verdammt, sich Alternativen zu dieser Liebe zu suchen, die ihn jedoch nach einem kurzen Genuss noch leerer zurücklassen bis hin zur völligen Verzweiflung. Solange er dort sucht, wo nichts zu finden ist, werden sich seine Süchte und Neigungen verstärken. Die “aufgeklärte Welt” bietet natürlich auch Alternativen zur „Heilung“ an, doch oft bleibt das eigentliche Bedürfnis trotz intensiver Bemühungen unerfüllt.
Umgekehrt wird bei dem Menschen, der echte Liebe im Charakter des Ewigen erlebt hat (siehe Jer. 31:3), die „Eifersucht des Nachasch“ ganz von allein aufhören. Wer seinen Durst mit frischem Wasser gesättigt hat, wird kein Verlangen haben, Salzwasser zu trinken, wie es immer wieder bei Schiffbrüchigen vorgekommen ist. Er braucht sich nicht quälen oder zwingen, sondern soll sich ehrlich fragen, ob das, was in seinem Leben passiert, Geschenk eines Liebenden ist oder ob er sich als Opfer von beziehungslosen Umständen sieht. Liebe drückt sich im Geben aus (Joh. 3:16). Gott liebt, also gibt er. Ohne die Gegenseite des Nehmens wäre das natürlich einseitig und sinnlos. Eva gibt übrigens auch, jedoch erst, nachdem sie sich mit dem Nachasch eingelassen hat (1. Mose 3:6). Sie reicht die Frucht vom Baum des Wissens an den weiter, mit dem sie „vor“ der Begegnung mit dem Nachasch noch in Liebe verbunden war.
Hierzu sagt Raschi, dass „sie nicht Willens war allein zu sterben und Adam eine neue Frau zu gönnen“. Nein, du stirbst mit mir. Wenn ich untergehe, dann sollst du auch untergehen! Das göttliche Geben klingt anders: Ich gehe unter auf dass du leben kannst! So lässt sich Gott bis heute streichen, lächerlich machen, des Hasses bezichtigen, der Idiotie preisgeben und die Menschen, die sich dabei noch überlegen fühlen, ernten die Früchte, die sie damit säen und machen sich gegenseitig für all das Leid und Elend verantwortlich, das ihnen begegnet. “Wie kann Gott das zulassen?“, lautet die Frage, die oft auch anklagend gestellt wird. Der Mensch hat nicht die Aufgabe, die Welt zu retten, aber bei sich selbst kann er anfangen, die richtigen Fragen zu stellen und manchmal ist es auch nötig, die eigene Komfortzone zu verlassen, um dem Leben eine Chance zu geben, sodass sich das Schicksal wenden kann.
Die vom Nachasch vereinnahmte Eva sieht am Baum der Erkenntnis nur noch das Gute, das Böse blendet sie plötzlich aus (1. Mose 3:6). „Ja, ist doch alles gut!“, hört man mittlerweile oft regelrecht als Floskel dahergesagt – ein typischer Eva-Satz. Ein Kommentar sagt, dass mit Evas Sinnen auf des Baumes Frucht das Wünschen nach dem Lustprinzip des Menschen gemeint ist. Man will etwas unbedingt, ungeachtet der Konsequenzen haben. Das Ausblenden der Gegenseite erfolgt „automatisch“ sobald der Nachasch es schafft, Zweifel an unserer Beziehung zum Schöpfer zu säen. Auf einmal entsteht bei uns die Lust, die der Nachasch beim Anblick des Liebesspieles des ersten Paares verspürte, doch exakt umgekehrt: So wie der Nachasch sich nach fortwährender Liebe und Verbindung sehnte, so sehnt sich der betrogene Mensch nach Unabhängigkeit durch Trennung. Am Ende steht er ganz alleine, die anderen sind an allem schuld – das Leben sei ungerecht, hört man Betrogene sagen. Aber nach 130 biblischen Jahren kommt die Umkehr. Die Wirkung des suhma, des Schlangengiftes ist praktisch aufgehoben. Scheth, 300+400 (Seth), wird geboren, dessen Name auch in einem Wort für Schweigen enthalten ist (schatak, 300+400+100). Nur von ihm und Adam wird direkt gesagt, dass sie im Gleichnis und Bild Gottes sind (1. Mose 5:3). Das Wort Gleichnis, d’muth, 4+40+6+400, hängt wiederum mit einem Verb für „schweigen“ zusammen (damam, 4+40+40). Essenziell hängt jedoch auch der Nachasch, 50+8+300, (reduziert auf 5+8+3), mit dem Schweigen zusammen, konkret mit chascháh, 8+300+5 (reduziert auf 8+3+5)*. Mit dem Erscheinen des Stellvertreter Abels (1. Mose 4:25) ist die Wirkung des Gespräches mit dem Nachasch beendet und aufgehoben. Wenn der Mensch sein Schicksal annimmt und es von seinem diesseitigen Verständnis der Kausalität entkoppelt, sind die 130 Jahre erreicht und es erfolgt eine Verbindung von Seele und Körper, die eine gesegnete Frucht hervorbringt.
Die 130 ist die 13 der Liebe (ahava, 1+5+2+5) auf dem Niveau des wirklichen Erlebens.
*Mit dem Auftreten der 5, der 8 und der 3 kommt es noch zur Verbindung mit dem Wort gachón, 3+8+50, das ist der Bauch, auf welchem der Nachasch geht (jalach, 10+30+20, bedeutet nicht kriechen). Addiert man 5+8+3 erhält man die 16, die einerseits für das Leben im Körper des Tieres steht und in der Quersumme (6+1=7) das Leben in der Zeit darstellt (6 + 1 ist auch der Rhythmus einer Woche).