Die Flucht vor dem Altern

Der Außenkreis drängt in der Zirkulation der Zeit immer weiter nach außen, ist immer flüchtig wie das Tier vor dem Jäger. Das Leben des Weglaufens, des fortwährenden Unterwegs-Seins, das ist sozusagen sein Wesen, und deshalb ist der Körper auch immer auf der Flucht, denn der Körper ist wie das Tier ein Gejagter und die Angst vor dem Altwerden, vor dem Vergehen der Jugend, hält dieses Leben immer in seinem Bann.

Es ist die Angst vor dem Jäger, der ihn jagt, und das lässt ihn sich immer alt fühlen. Diese Angst war und ist typisch für die Heiden, ist typisch für Esau, den, der immer draußen unterwegs und auf der Suche nach dem nächsten Kick ist. Aber das, was Israel im Menschen ist, ist immer gleichermaßen Alt und Jung, denn es weiß, dass das Alter auf die 1 hinausläuft, zu sich selbst zurückkehrt, zu seinem Ursprung, worin auch der Körper einbezogen ist, denn auch er muss zur Ruhe gebracht und geheiligt werden. Und deshalb hat Israel als Entsprechung für die Seele keine Angst vor dem Alter, sondern sieht dieses als etwas Gesegnetes an. Auch weise junge Leute werden in der Tradition als „Älteste“ bezeichnet, weil sie keine Angst vor dem Älterwerden haben. Sie versuchen nicht, sich körperlich jung und überlegen zu geben, wie es zum Beispiel in den USA üblich ist, wo man auch als älterer Mensch Sport treibt und jugendlich aussehen will.

Ein „Ältester“ ist nicht jemand, der eine gewisse Anzahl an Jahren hinter sich hat, sondern der keine Angst vor dem Altern hat, was ein Unterschied zur Angst vor dem Tod ist. Der Tod kann auch junge Leute bei voller Gesundheit aus dem Leben reißen, und wenn man die wagemutigen Aktivitäten der jungen Leute heutzutage beobachtet, scheint es manchmal fast, als suchten sie sogar dem Tod so nahezukommen wie nur möglich. Mitunter sind es aber dieselben Leute, die sich eben noch wagemutig die Klippe herunterstürzten oder mit Raubfischen ein Wettrennen veranstalteten, die ganz verhalten reagieren, wenn es um ihr eigenes Älterwerden geht. Nein, nein, nein, darüber will ich nicht nachdenken!

Deshalb gibt es zum Beispiel in der griechischen Skulpturkunst nur junge Leute, und ein alter Mann gilt dort als etwas Schreckliches und Beängstigendes. Das ist der große Gegensatz: Das Heidentum will jung bleiben, legt Wert auf Sport und körperliche Leistung, während Israel eher darauf setzt, eins zu werden, und deshalb auch das Alter ehrt. Wer mit Esau trainiert, hat kein gutes Verhältnis zu Jakob und wird ihn entsprechend behandeln. Das heißt, er wird seine Seele mit Trockenfutter abspeisen, während er seinen Körper königlich bewirtet.

An der Behandlung der Alten erkennt man, wohin die Gesellschaft sich entwickelt hat. Für das Heidentum sind alte Leute eigentlich lästig, man muss ihnen die Rente bezahlen, sich um sie kümmern, und sie machen eigentlich nichts. Kaum jemand spricht das aus, man spürt doch, dass es irgendwie nicht stimmig wäre, aber die Gedanken werden durch eine einseitige Sicht auf das Leben so weit genährt, dass man irgendwann zu dem Schluss kommen muss, dass es vielleicht viel besser wäre, alle Alten zur Seite zu schieben, um sie sozusagen von ihrem Leiden zu befreien.

Dem steht die Betonung des Alters in der Bibel gegenüber, wo es eine Ehre ist, alt zu sein. Die Alten haben viel Erfahrung, werden, wenn sie ihr Inneres genährt haben, milder in ihrem Urteil, sie können stärker relativieren und werden bevorzugt, weil sie der Eins wieder so nah sind, wie sie es als kleines Kind einmal waren, doch jetzt haben sie alles durchlebt. Angst vor dem Alter und den damit verbundenen „Bindungen“ (man denke an die Bindung des Isaaks) hängt mit einer unterernährten Seele zusammen.

Die leibliche Übung ist wenig nützlich, schreibt Paulus als Alter an den jungen Timotheus (1. Tim. 4:8). Die engl. Übersetzung verwendet für „nützlich“ den Begriff „profitabel“. Im Griechischen ist die „leibliche Übung“ die somatikä gymnasia. In opulentem Bedeutungsschwang offenbart sich „gymnasia“ als von gymnos stammend, was nichts anderes als „nackt“ bedeutet. Der Zusammenhang ist klar: Je mehr ein Mensch sein Augenmerk auf den Körper setzt, desto mehr wird er diesen enthüllen und präsentieren wollen. Hier baut sich eine direkte Verbindung zum Baum der Erkenntnis, der ebenfalls Nacktheit bewirkt. 

Solchen Menschen ist das Alter angsteinflößend, weil sie keinen Zugang zum Leben haben, das aus der inneren Quelle gespeist wird und nicht durch Supplements, wie man das heute nennt. Wer graues Haar trägt, zu dem sagt man: Der Engel des Todes hat dich eingeseift! Und ist das nicht schön, wenn man vor der Rückkehr noch gewaschen wird? Die letzten Schlacken sollen noch entfernt werden – das ist nicht immer angenehm.
Aber wenn die Seele gute Nahrung erhält, wird sie den Körper durchhalten lassen, also dass am Ende beide sagen können: Welche Wunder durften wir gemeinsam erleben. In diesem Sinne versteht man auch Jung und Alt, nämlich als etwas, das unverbrüchlich zusammengehört.