Traditionell sagt man täglich (im jüdischen Brauch), dass man nicht vergessen darf, was Amalek während des Zuges durch die Wüste den Schwachen und Müden angetan hat. Es wird noch hinzugefügt, dass das Gedenken an Amalek ausgelöscht werden soll.
In der Bibel ist diese Passage in 5. Mose 25 in den Versen 17 bis 19 zu finden:
Erinnere dich daran, was Amalek dir getan hat auf dem Weg, als ihr aus Ägypten zogt, wie er dir auf dem Weg entgegentrat und deine Nachzügler schlug, alle Schwachen hinter dir her, als du erschöpft und müde warst; und er fürchtete Gott nicht.
Und es soll geschehen: Wenn Ha-Schem Elokim, dir Ruhe verschafft hat vor allen deinen Feinden ringsum, in dem Land, das Ha-Schem Elokim, dir als Erbteil gibt, es zu besitzen, so sollst du das Gedächtnis Amaleks unter dem Himmel austilgen. Vergiss es nicht!
Sicherlich könnte man sagen, dass der beste Weg, Amalek zu verleumden, darin bestünde, ihn zu vergessen, so wie die Bibel auch sagt, dass sein Name von der Erde getilgt werden sollte.
Man soll sich also an jemand erinnern, dessen Gedenken getilgt werden soll. Gewissermaßen steht das doch in einem Widerspruch. Wäre es nicht besser, man würde Amalek nirgends mehr erwähnen? Weshalb benachdruckt man eine Erinnerung an etwas sehr Negatives? Erreicht man dadurch nicht genau das Gegenteil, nämlich eine Art Verewigung dieses Themas?
Die tägliche Wiederholung des Gedenkens ist Ausdruck der Anerkennung des ewigen Charakters der Bibel, der sich darin offenbart, dass sie jeden Tag unser ganzes Leben bestimmt und vom Zentrum her unsere Realität bildet, die wir im Außen wahrnehmen, wenngleich unscharf.
Daraus folgt, dass jeden Tag die Erinnerung an Amalek ausgetilgt werden muss. Jeden Tag soll man sich daran erinnern, wofür Amalek steht, denn nur so kann er im eigenen Leben erkannt werden. Deshalb kann man dies nur tun, wenn man sich bewusst macht, dass Amalek zu uns gehört, wie unser Körper zu uns gehört.
Man würde die Auslöschung des Namens Amaleks niemals ernst nehmen, wenn sie sich nur auf eine Tatsache beziehen würde, die viele tausend Jahre zurückliegt und die man, historisch betrachtet, längst hinter sich gelassen hat und deshalb versöhnlich sagen könnte: „Lasst uns Amalek jetzt rehabilitieren. Vielleicht gibt es ihn gar nicht mehr. Irgendwann muss man doch mal einen Schlussstrich ziehen“. Doch die Bibel spricht mit ihren Geschichten Schichten in uns an, die tagtäglich unserer Wirklichkeit entsprechen. Amalek hat hierbei eine besondere Gewichtung, denn er ist derjenige, der die auf dem Zug durch die Wüste aufgrund von Schwäche oder Müdigkeit Zurückgebliebenen kaltblütig überfällt und attackiert. Im eigenen Leben zeigt sich diese Attacke in Form körperlicher Bedürfnisse, die auf einmal in den Vordergrund rücken und den Menschen daran hindern, den Weg weiter Richtung Kanaan, also von der 2 zur 1 zu gehen.
Das ist das Werk von Amalek, der ständig den Weg nach Kanaan verhindern will und immer genau in den schwachen Momenten angreift, in denen der Mensch von dieser Welt durch den Körper überwältigt wird. Amalek stammt aus Esau und ist der Sohn einer der Nebenfrauen Esaus, des wichtigsten Sohnes Eliphas. Er ist also auf eine sehr typische Art und Weise, man könnte fast sagen, Esau zum Quadrat, Esau in einer Art Reinkultur. Der Körper gewinnt die Oberhand und man fühlt sich den Naturgesetzen unterworfen, die in Bezug auf Israel, auf den Kern, das Zentrum des Lebens eine herabwürdigende Sicht entwickeln, ja alleine schon die Tatsache, dass alles einen Kern hat, der sich mit irdischen Maßstäben nicht bestimmen lässt, bewirkt bei Amalek eine grantige, eine mürrische Art, die sich auch beim Menschen zeigt, der im „Amalek-Zustand“ sehr gereizt reagiert.
Diese mangelnde Ruhe, die fehlende Gelassenheit, weil man nicht mehr darauf vertraut, dass bestimmte Dinge auf dem Weg zum Ziel dazugehören, hängen direkt mit dem Denken und Handeln nach äußerlichen Gesichtspunkten zusammen. Die Neigung, doch der eigenen Wahrnehmung den Vorrang zu geben, ist so stark, dass man sich, wie bereits gesagt, 5x pro Tag die Erinnerung ins Gedächtnis ruft, um diese Kraft Amalek auszuradieren, wie es wörtlich heißt. Das hebr. machah, 40+8+5, bedeutet „unleserlich machen“ und wird im modernen Hebräisch gebraucht, wenn ein Computer Daten löscht, indem er sie überschreibt, wodurch eine Wiederherstellung nur schwer oder gar nicht mehr möglich ist (Obliteration).
Wer in der Bibel eine so große Bedeutung hat wie Amalek, hat oft auch eine entsprechende Herkunft. Amaleks Stammvater ist Esau, der namentlich mit dem Tun um Nutzens willen zusammenhängt. Esau ist außen, sein Zwillingsbruder Jakob innen im Zelt. Das Ausradieren der Erinnerung an Amalek ist nicht eine Art “Anti-Vergebung”, sondern ein Erkennen der realen Kraft der Materie, die es tatsächlich im Leben eines jeden Menschen gibt. Amalek – so ein Kommentar – versucht mit aller Kraft zu beweisen, dass das Leben nicht von Gott, dem Unbesiegbaren, aus dem Inneren gelenkt wird, sondern die Ereignisse im Außen maßgeblich für das Schicksal sind.
Sich dessen zu erinnern, die Erinnerung zu löschen, deutet auf den ewigen Charakter der Schrift hin. Wäre es nur eine historisch einmalige Angelegenheit gewesen, gäbe es keinen Grund, sich immer wieder neu an Amalek zu erinnern. Ein weiterer Aspekt ist, dass „Erinnerung“ und „männlich“ im schriftlichen Hebräisch identisch sind und man deshalb auch lesen kann, dass das Männliche Amaleks ausgelöscht werden soll, d.h, dass man dem Prinzip des Leistens nicht einräumen darf, Erfüllung ins eigene Leben zu bringen. Die Aussage „Ich bin stolz auf das was ich geleistet habe, und das erfüllt mich!“, wäre das Gegenteil vom Auslöschen Amaleks. Das Männliche ist zur „Erfüllung“ des „Weiblichen“ da. Das Weibliche steht für das Äußere bei jedem Menschen und das Männliche für das Innere, das von „dort“ kommen soll und nicht von woanders.
Wir leben in der Welt des Tuns, aber nicht in der Welt der Arbeit. „Es tut sich“, weil man erfüllt ist und nicht, wie man umgekehrt sagen könnte: „Weil ich leiste, erlange ich Erfüllung.“ Wie so oft liegen hier zwei konträre Dinge, die von außen betrachtet vielleicht sehr ähnlich scheinen, ganz nah beieinander. Amalek gewähren zu lassen geschieht ganz von selbst. Sobald ein Mensch in eine Passivität verfällt, verliert er seine Kraft, ähnlich wie ein Muskel, der nicht bewegt wird. Passivität hat auch einen dämonischen Charakter, denn von diesen wird gesagt, dass sie gerne zuschauen und nicht selbst am Leben teilnehmen. Diese Schwäche nutzt Amalek gnadenlos und eiskalt aus, was sich beim Menschen im Empfinden zeigt, dass er sich den Kräften des Weltenganges und der Natur ausgeliefert fühlt. In der Wüste wurde Amalek solange besiegt, wie Mose imstande war, die Verbindung zwischen Himmel und Erde aufrechtzuerhalten, indem er die Hände gen Himmel hob, also eine aktive Haltung einnimmt. In der Vernachlässigung sinken die Hände wie von selbst nach unten, was sich zunächst wie eine Erleichterung anfühlt, aber direkt mit erheblichen Konsequenzen einhergeht. Nun kommen Angriffe, Unfälle und damit schwierige Lebenssituationen. Amalek greift an, wenn man müde ist. Wenn also die Seele, die neschamah, der göttliche Lebensatem, durch das Ziehen, d.h. durch die Bewegung, durch die Zeit ermüdet wird. Dann entwickelt der Körper eine ganz bestimmte Kraft. Wenn man unter Druck steht, aufgrund bestimmter Umstände aber nicht mithalten kann, obwohl man mithalten will, dann kommt Amalek mit seiner Kraft nach unten zu ziehen. Stellt man die Zeichen, mit denen Amalek (70+40+30+100) geschrieben wird, einmal um, so entsteht daraus l’emek (30+70+40+100), zum Tal, zur Niederung, sprich: Jetzt geht es nach unten (z.B. Richter 1:34 am Ende).
Trost, Kraft und Zuversicht erhält der Mensch niemals durch Arbeit und Leistung. Diese vermitteln, solange man „funktioniert“, zwar eine gewisse Genugtuung, doch sobald die geforderte Leistung nicht mehr erbracht werden kann, schlägt es ins Gegenteil um und drückt den nach unten, der sich diesem Wahn hingab. Mit der Ausrichtung auf den Himmel kommt auch die Kraft von dort und es siegt Jehoschua, der das direkte Gegenüber zu Amalek ist (2. Mose 17:13).
Basierend auf einem NL-Artikel F. Weinrebs um 1950