Die zwei Brüder

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Die Geschichte zum Hören

Eine alte Erzählung
von FRIEDRICH WEINREB

Es geschah einmal vor langen Zeiten etwas sehr Gutes. Und da das Gute bleibt, kann man sagen: Es geschieht noch heute und es wird weiterhin so sein. Und es geschah in einem fernen Land. Aber, da es etwas sehr Gutes war, und das Gute überall sein kann, heißt es auch: Es geschieht hier und jetzt, es ist ganz nahe.
Nun, die Geschichte erzählt von zwei Brüdern. Man sagt, der eine hieß Anton Leba, der andere aber Karl Nijak. Sie fanden sich, als Anton seine Schafe auf saftige Weiden führte. Er sah, wie die Schafe sich am Gras erfreuten, denn sie hatten nur Augen für ihr Weiden. So bemerkten sie den Mann nicht, der das Gras abmähte und der sich den Schafen immer mehr näherte. Sie vertrauten auf ihren treuen Hirten. Der aber hatte den Mann schon gesehen und meinte, die Wiese dort gehöre dem fremden Nachbarn.

Deshalb wollte er ihm zurufen, er habe seine Herde aus Unwissenheit hierher gelenkt. Und er werde ihm das Gras, das sie fressen, vergüten.
Der andere Mann nun, und das war der Karl Nijak, wollte ihm, als er ihn sah, sagen: seine Schafe sollten nur ruhig weiter grasen, denn es schmecke ihnen wohl gut. Es gäbe noch genug zum Abmähen.
Da sie nun beide zugleich riefen, konnten sie die Worte des anderen nicht verstehen. Und so lachten sie eben, wie nur glückliche Leute lachen können.
Sie kamen ins Plaudern. Und wie es dann weitergeht: man nannte seinen Namen, erzählte, woher man kam, was man hier tat und was man vorhatte. Der Karl Nijak sah seine Zukunft im Züchten von Pflanzen für den Verkauf in der Stadt. „Dort kann man alles kaufen. Wenn man nur genügend Geld hat“, sagte er.
Der Anton Leba überlegte, was der Karl meinte. Dann erwiderte er: „Hast du denn Platz, alles was du kaufen möchtest, bei dir zu Hause aufzustellen? Man kann doch alles, was man benötigt, auf dem Lande ernten. Und wenn man etwas nicht hat, dann kann man es von den Nachbarn erhalten, eventuell tauschen. Vieles bleibt doch gar nicht frisch, es fault sogar.“
„Das verstehst du nicht, Anton“, meinte Karl jetzt. „Das Gefühl, dass ich mit meinem Geld alles kaufen könnte, gibt mir schon das weitere Gefühl, es zu haben. Es kann ruhig in den Läden in der Stadt aufbewahrt bleiben. Mein Geld sagt mir: Ich kann jederzeit kaufen, was ich mag.
Deshalb verkaufe ich meine Pflanzen und Früchte in der Stadt. Und das Geld sammle ich hier in einer Truhe, zuhause bei mir. Und jedes Mal, wenn ich zuhause bin, habe ich Freude, das Geld und Gold durch meine Finger fließen zu lassen. Das Geld sagt mir: Alles, was man in der Stadt kaufen könnte, kann ich mir leisten.
Anton sagte dann nur: „Mir machen meine Schafe mehr Freude als alles, was ich je in der Stadt kaufen könnte. Weisst du, wie gescheit und wie lieb sie sind? Sie erkennen mich sofort und folgen mir, sind beispielhaft dankbar und treu. Sie geben mir Milch und Wolle. Und meine Frau macht dann Butter und Käse aus der Milch und spinnt und webt die Wolle. Was brauche ich mehr? Die Kinder helfen mir, sie kennen die Schafe, jedes Einzelne, und die Schafe kennen die Kinder. Mehr als das würde uns nur Unruhe bringen.“
Und so sprachen sie fast Tag für Tag miteinander, und sie erzählten einander vom Glück, das jeder für sich erlebte.
Anton, der bemerkt hatte, dass Karl nie von seiner Frau oder Kindern sprach, fragte einmal nach ihnen.
„Weisst du“, sagte Karl dann, „ich werde einmal eine Frau aus der Stadt heiraten. Zuerst aber muss ich noch mehr Geld einsammeln. Ich will der Frau auch etwas bieten. Sie soll alle ihre Wünsche erfüllt bekommen. Diese Freude möchte ich erleben.
Und wenn dann Kinder kommen, will ich, dass sie viel lernen. Nützliche Berufe, angesehene Berufe. Meine Frau soll deshalb aus der Stadt kommen. Dort weiss man, was die Welt erwartet. Sie soll aus gutem Hause sein, wo man den Wert des Geldes schätzt, wo man mit Kunst und Wissenschaften umzugehen weiss. So sehe ich meine Zukunft, und ich bin damit zufrieden. Nur Geduld. Es kommt dann schon.“
So lebten die beiden nebeneinander her, jeder auf seine Weise. Bis eines Tages ein Wanderer vorbeizog.
Anton lud ihn bald zu sich nach Hause ein, an seinen großen Tisch. Es war ein Stimmengewirr von den Kindern, man lachte, plauderte und spielte. Plötzlich rief Antons Tochter Mechtild: „Lasst uns doch unseren Nachbarn Karl hereinrufen. Der isst immer allein.“ Und sie schickte ihren kleinen Bruder, den Christof, hinüber.
Karl sass zuhause an seinem Tisch. Das Essen stand vor ihm. Auf dem Tisch aber lag ein Buch, in dem er gelesen hatte und in dem er nachher weiterlesen wollte. Das Buch bereitete ihm Freude. Denn es erzählte ihm Erstaunliches. Daneben, auf der anderen Seite des Tellers, lag ein Heft. Dort hinein schrieb Karl seine Gedanken über das Gelesene. Und dabei dachte er noch: „Das kann der Anton nicht, der hat einfach keine Zeit. Aber der hat schon Freude an Frau und Kindern und seinen Schafen. Ich bin noch allein, ich will noch warten.“
Da kam gerade der Christof herein: „Nachbar, wollen Sie vielleicht zu uns kommen? Es ist bei uns so lustig. Und dann ist gerade ein Gast gekommen; der kann so schön erzählen.“
Karl nahm seine Jacke und ging mit. Man empfing ihn freudig und dankte der Mechtild und dem Christof für ihre Aufmerksamkeit. Es kam alles aus gutem Herzen.
Der Wanderer, der Gast, hatte gerade mit einer Geschichte angefangen. Er erzählte, wie dort, im weiten Land, wo er herkam, vor Jahren einmal ein Unglück hereingebrochen war: Feinde hatten gemordet und geplündert, hatten Feuer gelegt. Nur wenige konnten fliehen. Die anderen Überlebenden hatte der Feind als gefangene Sklaven mitgenommen.
Da sagte Karl, der ältere: „Ich glaube, als Kind mit anderen geflohen zu sein. Ich könnte wohl von dort sein, lieber Gast.“
„Wie ist denn Euer Name?“, fragte dieser jetzt. „Ein fremder Name für diese Gegend. Er lautet ‚Nijak‘.“
Der Fremde schaute überrascht. Und er sagte jetzt: „Ich kannte dort einen würdigen Mann. Er war der Weise des Landes. Der aber hiess ‚Lebanijak‘. Sie scheinen nur die Hälfte seines Namens zu tragen. Einen Nijak gab es dort nicht.“
Jetzt sprang Anton auf und rief: „Aber ich heisse Leba. Wir tragen, mein Nachbar und ich, zusammen den Namen jenes Weisen. Wie erklären Sie das, verehrter Gast?“
Und der sagte jetzt: „Der Weise hatte zwei Söhne. Und er hat gesagt, es würden vielleicht schwere Zeiten kommen. Man würde in die vier Ecken der Welt zerstreut werden. Deshalb habe er dem einen Sohn die eine Hälfte des Namens gegeben, ‚Leba‘ also, und dem anderen Sohn die andere Hälfte, ‚Nijak‘. Wenn diese zwei durch Zufall aufeinander treffen würden, sei die Zeit nahe, dass Gott auf Erden seine Wohnung errichten werde. Und jetzt seid ihr hier, jetzt ist der Name Eueres Vaters wieder ganz da: ‚Lebanijak‘.“
Man drückte einander die Hände; die Kinder jubelten und sprangen herum. Sogar die Schafe draußen meckerten wie freudig im Chor mit. Der Wanderer erhob die Hände, er bat um Ruhe; er hatte noch mehr zu erzählen. Also wurde es still:
„Der Weise hat aber noch etwas Entscheidendes gesagt: wenn dann einmal durch die beiden Namenshälften der ganze Name wiederhergestellt sein würde, dann sei noch etwas zu erfüllen. Ihr beide habt euch jetzt als Brüder erkannt. Das, was er noch sagte, solle aber bis zum Ende Geheimnis bleiben. Wenn es euch bekannt würde, könnte es nicht erfüllt werden. Nur, wenn es Geheimnis bleibt, ist die Erfüllung möglich.
Man soll es von sich aus tun; nicht, um einen Auftrag zu erfüllen. Liebe kann nur aus dem Herzen kommen, sie will ehrlich und wahrhaftig sein. Deshalb kann ich jetzt nichts mehr sagen. Ihr werdet alles, was ich erzählt habe, vergessen. Damit ihr nicht mit dem Gefühl belastet seid, es werde etwas Besonderes von euch erwartet. Liebe hat so viele Aspekte und Formen. Auf Liebe ruht doch die ganze Welt.“
Und der Fremde erhob seine Hände. Sie wurden zu Flügeln. Und wie ein Engel verließ er den Raum. Die Anwesenden wussten aber nichts mehr von all dem, was geschehen war. Karl saß in seinem Hause, mit dem Teller vor sich, mit dem Buch an der einen Seite, das Heft an der anderen. Und Anton war, wie immer, mit Frau und Kindern und den Schafen zusammen.
Der Fremde und seine Worte waren in ihrem Innern verborgen. Sie hatten keine Ahnung, etwas vergessen zu haben.
Auch wir wissen, wenn Engel uns solches erzählen, es nicht mehr bewusst. Aber in uns lebt es desto stärker. Wir können dann nur aus aufrichtiger Liebe handeln. Ohne Erwartung, dafür belohnt zu werden. Lohnerwartung macht unaufrichtig. Und das wäre, um der Liebe willen, schade.
Nun geht die Geschichte aber weiter: Die beiden wussten also nicht, dass sie Brüder waren. Sie wussten nur, Nachbarn zu sein. Und so geschah es eines Tages, als der Sommer vorbei war und der Herbst eintreten wollte, da erhielt Karl Kunde von einem Gerücht, ein reicher Mann sei unterwegs; viele empfingen ihn, denn dieser wohlhabende Mensch kaufte Land von jedem, der es besaß; und er zahlte gut.
Aber Karl freute sich jedes Mal, wenn er Früchte von seinem Land erntete, die er dann in der Stadt verkaufen konnte. Er hatte Freude an dem Geld, das er dann in seiner Truhe aufbewahren konnte. Denn dieser Reichtum gab ihm dann das Gefühl, man könnte auch sagen den Traum, er könne alles kaufen, was ihm nur einfiel. Und so dachte er bei sich: Das Land hat mir immer die Freude am Wachstum geschenkt, auch das Wachstum des Geldes.
Und als Anton von dem Reichen hörte, dachte er nur an seine Schafe und an die Freude, die sie ihm durch ihre Treue schenkten: Wenn der Reiche ihn auf seinem Land würde wohnen lassen, und er die Schafe dort weiterhin weiden könnte, so wäre es ihm gleichgültig, ob das Land ihm oder dem Reichen gehören würde.
Inzwischen war der reiche Mann bei Karl angekommen. Er bot Karl, nachdem er dessen Land nur kurz betrachtet hatte, eine große, eine undenkbar große Summe. Mehr als das Zwanzigfache von der Ernte eines Jahres. Und das Schöne war: Er sagte dem Karl, er könne dort wohnen bleiben und weiterhin ernten. Nur solle er dann ihm, dem neuen Besitzer, ein Zehntel der Ernte schenken. Dabei würde es weiterhin bleiben.
Er erwarte immer nur dieses eine Zehntel der Ernte. Wenn die Ernte groß wäre, bekäme er mehr, wenn sie klein wäre, dann soviel weniger, und wenn nichts zu ernten wäre, dann brauche er auch nichts zu geben.
Karl überlegte einige Tage. Denn ihm war klar geworden, dass alles Land doch Gott gehöre. Und der Mensch könne nur vom Ertrag des Landes leben. Wenn der Reiche mit dem Zehntel des Ertrages von jedem Jahr zufrieden ist, dann tue ich so.
Aber was könnte er dann mit der großen Summe Geldes tun, die der Reiche ihm bezahlen wollte? Was da vom Ertrag eines jeden Jahres in seiner Truhe herangewachsen war, bedeutete schon eine beträchtliche Summe. Und jedes Jahr kämen doch die neuen Erträge, die ihm nach Abgabe des Zehntels blieben, hinzu.
Und so dachte er an Anton. Der habe eine Frau und Kinder zu versorgen. Und der wusste nicht vom Vorteil des Verkaufens von Schafen und ihrer Produkte. Der lebte einfach von dem, was das Land und die Schafe ihm schenkten und hatte die fortwährende Freude, diese Lebewesen als Schöpfung Gottes zu erleben.
Der könnte dann doch seine Herde vergrößern. Er könnte Rinder kaufen, Kamele, Esel. Das würde ihn noch mehr erfreuen. Schließlich, wenn die Kinder erwachsen wären, heiraten, dann würde Anton es gewiss gut nutzen können.
Und so beschloss er, den Anton einfach mit einem Geschenk zu überraschen. Er wollte es aber so tun, dass Anton keine Ahnung hätte, dass er, Karl, es war, der ihn beschenkte. Er würde eines Nachts, wenn alle schlafen, einen Beutel voller Goldstücke, alles, was der Reiche ihm zahlen wollte, beim Stall der Schafe eingraben, an einer Stelle, wo Anton es in absehbarer Zeit schon finden müsste.
Karl hatte den Beschluss gefasst und wartete jetzt auf eine dunkle Nacht: Am besten bei Neumond, dann ist es wirklich ganz dunkel.
Zu Anton kam der Reiche nicht. Er hatte gehört, Anton sei ein Hirte, sein Land gebe kaum Ertrag, nur die Schafe würden davon ernährt. Anton und seine Familie kauften und verkauften nicht. Denn so lebt ein Hirte: Sein Gewinn ist die Freude am Hüten und Beschützen der Herde. Und diesen Gewinn kann man nicht in einer Truhe aufbewahren und dort vermehren.
Aber Anton machte sich auch Gedanken über Karl. Und er dachte schon lange darüber nach, wie er ihm eine Freude machen könnte. Was aber sollte er dem Karl, dem wohlhabenden Mann, schon schenken? Der besaß doch schon so viel, und wie er ihm selber erklärt hatte, könne er mit seinem Geld alles kaufen, was die Kaufleute der Stadt aufbewahrten und zum Kauf anzubieten hätten.
Was aber Karl nicht hatte, und was er mit Geld kaum kaufen könnte, was ihm fehlte, war eine Familie. Karl kannte die Freude nicht, die er, Anton, durch seine Frau und seine Kinder täglich erlebte. Und er hatte keine Ahnung von der Freude, die eine Herde bereiten konnte.
Nun bedachte er, dass ein Mutterschaf bald ein Lamm bekommen würde. Eigentlich außerhalb der Zeit, in der sonst Lämmer kommen. Er erwartete es gegen Ende des Monats, vielleicht einige Tage vor Neumond.
Und er erinnerte sich, wie Karl einmal seine jungen Lämmer auf der Weide betrachtet hatte. Dabei hatte er, still vor sich hin, etwas gesagt, was Anton nie vergessen würde. Aber es war, als ob der Wind damals wollte, dass er, Anton, die Worte zugeweht bekäme. Denn Karl sagte damals: „Solch ein Lamm zu Hause zu haben, würde mein ganzes Leben ändern, erneuern. Es würde mich befreien. Denn bei allem Glück, das ich habe, und worum viele Leute mich beneiden, bin ich doch Knecht des Ertrages, den ich verkaufen muss. Solch ein Lamm würde mich als Menschen neu auferstehen lassen.“ Und etwas später fügte er hinzu: „Aber es geht nicht. Ich habe zu wenig Zeit. Ein Lamm würde mich ablenken. Und wo soll ich es halten? Ich habe doch keinen Stall?“, und Karl lachte laut auf, „der Gedanke allein schon: ich und ein Stall.“
Daran dachte Anton jetzt: „Tatsächlich lächerlich, Karl und ein Stall. Das Lamm aber bei mir lassen? Nein, das bewirkt nichts. Es bleibt ihm dann fremd. Er muss es einfach zu sich nehmen. Aber ich muss es ihm schenken, ohne dass er es bemerkt. Er weiss nichts vom trächtigen Schaf. Ich werde es ihm, mich wie ein Dieb in der Nacht einschleichend, einfach vor die Tür stellen. Er wird mich dann um Rat fragen, was mit dem Lamm zu tun ist, und ich werde ihm antworten, das Tier brauche vorläufig noch seine Mutter. Ich werde ihm die Mutter bringen. Um diese Jahreszeit gibt es das nur als Ausnahme. Ich werde sagen, dass ich mir denke, ein Lamm könne hier nicht erscheinen, wenn die Mutter nicht auch ganz in der Nähe wäre. Und so habe ich dann die Mutter bald gefunden. Der Karl wird sich schon gewöhnen. Er muss zuerst einmal erleben, was ein Lamm bei einem zuhause nicht alles bewirken kann.“
Und so entstand bei Anton der Entschluss, in einer dunklen Neumondnacht das Lamm, das gerade geboren werde, dem Karl zu bringen. Der wird schon schlafen und nichts hören. Das wäre eine schöne und gute Überraschung.
So hatten beide Brüder, die aber gar nicht wussten, dass sie Brüder waren, einen Plan, wovon sie ebenfalls nicht wussten, dass der je andere etwas Ähnliches vorhatte.
Das Lämmlein wurde eines Nachts geboren: Es war so lieblich, so gewinnend durch seine Hilflosigkeit hier. Diese Hilflosigkeit rief bei jedem, der es sah, Gefühle der Liebe hervor. Man spürte, ganz unbewusst, dass Liebe das Geschenk war, welches das Lamm vom Jenseits seiner Geburt mitbrachte. Im Häuschen von Anton war es wie ein starkes, neues Licht.
Und auch bei Karl wurde auf einmal alles voller Hoffnung. Ja, er wollte gar, trotz der Unbequemlichkeiten doch ein Lamm suchen. „Wer sucht, der findet“, dachte er sich. Aber, wo suchen? Das wäre doch lächerlich: Ein reicher Kaufmann, ein nüchterner Mensch, kann doch nicht sagen, er suche ein Lamm. Ein Hund, ein teuerer Rassehund, wäre schon eher verständlich. Ein Lamm aber? Wo sollte er das dann nur halten? Aber der Traum wurde stärker und stärker.
Es kam dann eine wirklich stockfinstere Nacht. Anton nahm das Lamm um seinen Hals; so trug es sich leichter. Er war es so gewohnt, von seiner Herde her. Und das Lamm klammerte sich mit seinen Pfoten so sanft und lieb an sein Hemd, dass Anton vor Rührung die Tränen kamen: „Die Mutter wird gleich in der Frühe schon wieder bei dir sein. Du bist jetzt eine Woche alt. Morgen ist der achte Tag. Der Karl wird sich ungeheuerlich freuen. Du gehst jetzt in die Welt. Karl ist ein guter Mensch. Und ich bleibe, dem zuzusehn. Meine Hand wird dich halten, wird immer über dir sein.“ So flüsterte Anton dem Lämmchen zu.
In der gleichen Stunde fand Karl, dass es jetzt an der Zeit wäre, sich mit dem Beutel voller Goldstücke zum Häuschen von Anton zu begeben. Der würde jetzt tief schlafen.
Er nahm den Beutel über seine Schultern und begab sich in die dunkle Nacht hinaus. Dort aber, wo sein Land aufhörte und wo er zum ersten Mal Anton begegnet war, als dessen Schafe über die Grenze hinweg geweidet hatten, stieß er in der Finsternis auf eine Gestalt. Er erschrak tüchtig. Wer konnte das sein, hier in der Nacht? Ein Räuber? Ein Engel? Haarsträubend.
Dasselbe geschah Anton. Nur der, weil er das Lamm trug, dachte: „Schau, man kommt dem Lamm schon entgegen. Engel wollen es empfangen.“ Und er erschrak gar nicht, er freute sich sogar.
Dann aber, bald, an dem Duft ihrer Kleider, erkannten sie sich. „Was hast du da?“, fragte Anton, auf den Beutel deutend. „Ich wollte dir Freude bereiten. Der Ertrag des Goldes kann keine bessere Bestimmung finden, als dass er Freude bringt. Du wirst es in deinem Haushalt schon gut gebrauchen können. Ich dachte, du bist doch solch ein treuer Hirte. Es werden sich noch andere, weitere von Gott erschaffene Wesen nur gut bei dir fühlen. Sie warten bestimmt schon darauf, in deine Herde zu gelangen.“
„Und was trägst du da? Ein neues Halstuch?“, fragte Karl weiter. Da brachte das Lamm einen so lieblichen, um Hilfe bittenden Ton hervor, dass Karl auf einmal fühlte: „Dazu bin ich da, dazu bin ich in diese Welt geboren. Das ist der Sinn von allem. Jetzt spüre ich, was Liebe ist. Es war schon immer dieses Lamm, das mich lenkte. Jetzt ist es aber da.“
Die beiden Brüder erkannten nun einer die Güte des anderen. Und sie umarmten und küssten sich, sie weinten und lachten in einem. „Wo gehen wir jetzt zuerst hin?“, fragten sie sich. Da antwortete Gott, indem er sprach: „Hier, an diesem Ort, wo ihr euch begegnet, hier will ich mein Haus auf Erden bauen. Denn da will ich wohnen, wo die Freude, überraschende Freude als Geschenk unterwegs ist, sich in der Nacht begegnete. Da will ich vom Himmel her Freude schikken, und die Freude, welche die Welt mir schickt, empfangen. Das ist der Ort meines Hauses.“
Und dann kam der Engel, der damals als Fremder, als Gast von Ferne, bei ihnen zu Besuch gewesen war, und der sie alles, was dabei gesagt worden war, vergessen ließ, als Bote von Gott wieder her. Er sagte jetzt: „Schön ist es, wenn Brüder so zusammenwohnen. So voller Liebe. Denn ich will euch jetzt erzählen, wer ihr an der anderen Seite des Lebens auch seid. Dort war von Karl her Hass und Neid, eben, weil er glaubte, er könne in der Welt alles kaufen und geniessen. Er wollte da vom Anderen nicht hören, nicht wissen. Er war auf Anton neidisch; er ertrug nicht, dass Anton die Schafe weidete. Er ertrug das Lamm nicht; vor allem das Lamm in seiner irdischen Schwäche und Hilflosigkeit ertrug er nicht.
Denn wisset nun, ihr seid hier die Spiegelseite. Und immer bedenke man im Leben: es gibt auch zu gleicher Zeit die Spiegelseite. Jetzt seht ihr, dass ihr Brüder seid. Aber lest euere Namen, euere Familiennamen, euere Herkunftsnamen doch einmal in einem Spiegel. Du, Karl Nijak, der Ältere und du, Anton Leba, der Jüngere; steht dann dort nicht Kajin und Abel? Deshalb sagte ich, ihr seid von einem Vater her, und erzählte von Lebanijak, also von Kajin und Abel als einer Einheit.
Liebe verbindet zur Einheit. Es wäre so leicht, so natürlich, wenn Karl damals, als die Schafe von Anton auf seinem Gebiet weideten, böse geworden wäre. Dann wäre auch nichts Weiteres geschehen. Eine kleine, gute Tat zieht eine ganze Reihe von Geschehnissen heran. Bis hierher. Fangt deshalb immer mit guten Taten an. Das Weitere besorgt Gott dann schon. Dann wird auch das Lamm geboren und lässt euch da begegnen, wo Gott auf Erden sein Haus baut.
Und wenn ihr eine böse Tat seht, und solche werden auf Erden immer, bis Ende der Tage geschehen und man wird von ihnen hören, dann denkt an den Spiegel. Denn dort geschieht es umgekehrt. Zusammen erst ergibt es die Einheit: Nicht nur die eine Seite, sagen wir, die böse Seite. Aber ebenfalls nicht nur die andere, die gute Seite. Es ist das Geheimnis der Einswerdung. Das aber soll der Mensch glauben können. Hier sei seine Natur nur bestrebt, das Gute zu tun. Damit hebt er das Böse schon auf. Deshalb ist in der Liebe das Geheimnis jener Einheit schon einbeschlossen. Tut also von Herzen Gutes. Und euer Leben enthält dann das Geheimnis der Ewigkeit.“
So erzählt man vom Ort, wo Gott sein Haus hat, sein Haus mit den vielen Wohnungen. Und jeder Mensch kann Karl oder Anton sein, wie auch sein Name heißen mag. Bei jedem, in jedem wohnt Gott. Wenn man nur an diesen Spiegel und an diese Einheit denkt.