Es wird dem Menschen hoch angerechnet

In der Akedah (עקדה), der Geschichte der Bindung Isaaks auf einem Berg im Lande Morijah in Gen. 22 ist das Verhältnis zwischen Abraham und Isaak die Beziehung zwischen Rechts und Links und damit auch zwischen Neschama (Seele) und Guf (Körper).
Die Neschama bekommt die Botschaft, dass der Körper sterblich ist, dass es eine Trennung geben muss, obwohl der Mensch gleichzeitig auch etwas in sich hat, das trotz allem weiß, dass ein ewiges Zusammensein von Körper und Seele ganz bestimmt in Gottes Absicht liegt, dass es sozusagen versprochen ist, wie Abraham das Versprechen gegeben wurde:


Denn das ganze Land, das du siehst, dir will ich es geben und deiner Nachkommenschaft (זרע) bis in Ewigkeit (עולם). Gen. 13:15

Und doch, während dies im Menschen liegt, dieses Wissen um das ewige Zusammensein, erhält der Mensch auch die Mitteilung, diesen Körper so zu führen, dass er sozusagen dargebracht wird wie ein Opfer. Nicht in einem äußerlichen Ritual – das käme einem heidnischen Verständnis gleich –, sondern durch die Tatsache, dass er altert.

Es ist der Widerspruch, der auch im Menschen steckt, seine Liebe und Hoffnung einerseits auf die Einheit von Körper und Seele zu richten, aber andererseits trägt er dieses Wissen der Seele in sich, die irgendwann gesagt bekommt: „Begib dich mit dem, was du liebst, nämlich mit deinem Körper, an einen Ort, wo du diesen zurückgeben musst“.

Die göttliche Seele hat nichts mit einem irdischen Weg und nichts mit einer irdischen Verwandtschaft zu tun. Die Neschama weiß sehr genau woher sie kommt und worin die Bedeutung für das Leben hier besteht. Deshalb diskutiert Abraham auch nicht. Diese Geschichte in der Thora bietet viele Eckdaten für einen Verfall in eine sentimentale Erzählweise, die ohne Kenntnisse der inneren Struktur des Wortes mehr Fragen aufwirft, als sie beantwortet.

Wir wissen aus dieser Bibelgeschichte, dass Isaak und gerade Isaak niemals das Land Kanaan verlassen darf. Die anderen Erzväter taten dies, nur Isaak darf es ausdrücklich nicht. Dies zeigt auch schon: Dieser Leib geht nicht aus der Welt, er geht nicht verloren, es kann kein Missverständnis geben, denn gerade mit der linken Seite, mit der dunklen Seite, der Nachtseite, geschieht dies. Man denke auch an die Seite des Feuers rechts und die Seite des Wassers links, und der Körper hat doch eine starke Beziehung mit dem Wasser. Das, was ihn motiviert und antreibt, was ihn befeuert, kommt jedoch aus einer anderen Region.
Deswegen wird ausdrücklich gesagt:
So wie Isaak das Land niemals verlässt, wie notwendig es auch oft erscheinen mag, wie logisch es auch sein mag, so kannst du dennoch beruhigt sein. Der Leib bleibt immer im Land.
Und es scheint, als käme der Tod für den Leib, aber in Wirklichkeit ist das nicht der Fall.

Das Besondere ist, dass Isaak geht, obwohl er allmählich versteht, dass er sterben wird, so wie auch beim Menschen allmählich das Bewusstsein reift, dass es doch ein unausweichliches Gesetz ist, dass er mit dem Vergehen der Zeit auch selbst dem Tod entgegengeht, so wie Isaak beim Gehen immer näher an den Ort kam, an dem er vermeintlich sein Ende finden sollte.

Isaak wehrte sich nicht. Er ging, obwohl er wusste, was ihn erwartete, und das wird ihm als etwas Großes angerechnet. Und das ist es auch, was dem Menschen als etwas Großes angerechnet wird, dass er lebt, lacht, etwas unternimmt, obwohl er mit jedem Schritt und jedem Gedanken näher an den Ort kommt, an dem er geopfert werden muss, was er mit zunehmendem Alter nur zu gut weiß.
Trotzdem handelt er, geht seinen Weg, und es ist keine Kleinigkeit, dass

  • er tagtäglich aufsteht und Dinge erledigt, an denen er mitunter weniger Freude hat.
  • Schmerzen aushält und versucht, diese zu lindern.
  • er arbeitet, um sich etwas zu essen zu kaufen, auf dass er weiter leben kann.
  • er sich mit einem Körper arrangiert, der im Laufe der Jahre nachlässt.
  • er nicht aufgibt, obwohl es auch Gründe gäbe, seinen Weg zu beenden.
  • er sich mit Problemen befassen muss, von denen er kurz zuvor noch nicht einmal wusste, dass es solche überhaupt geben könnte.
  • ihm das Wasser manchmal bis zum Hals steht, aber er dennoch Ausschau nach etwas hält, womit er sich wenigstens über Wasser halten kann.
  • er nicht verstanden wird und er sich letztlich auch selbst ein Rätsel ist.
  • er Schmerzen aushält und auf viele Fragen keine Antwort hat.
  • er dennoch lacht und sich auch über kleine Dinge freuen kann.
  • er weint, wenn ihn die Gefühle übermannen.

Ab dem 3. Tag gehen Abraham und Isaak zusammen „wie eins“ (יחד), das ist der Mensch als Einheit von Leib und Seele, und dort, wo nach der Logik der Körper sterben müsste und schon gebunden, also handlungsunfähig ist, – erst dort! – offenbart sich die Erlösung.
Isaak heißt im Original Jizchak und zählt 208 (10+90+8+100), das ist 4 x 52, gewissermaßen also 4 x das Wort Sohn, ben, 2+50. In Gen. 22:9 tätigt Abraham die Handlung, die der Namensgeber für die gesamte Erzählung ist (akedah). In der originalen Reihenfolge steht dort „er bindet Jizchak Sohn seinen“. Aufgrund des eben gezeigten Verhältnisses zwischen Jizchak und Sohn könnte man auch „er bindet 4 – 1“ lesen, was der Deutung dieser Geschichte entspricht, nämlich der Bindung der 4, der Vielheit, zur 1-heit, alles muss an die 1 gebunden werden. Darin liegt das Geheimnis, dass es den Tod, wie er sich für uns darstellt, gar nicht gibt. Im NT wird die 4 – dort im Zeichen des Kreuzes – ebenso mit der 1 (Sohn) „gebunden“ und auch dort geht es um die Aufhebung des Todes, was sich in der Wandlung des Leibes zeigt. Der Auferstandene ist den Gesetzen der Materie nicht mehr unterworfen.
Sowohl im AT als auch im NT spielt der Leib eine tragende Rolle. Theologisch erzwungene Sichtweisen projizieren diese Erzählungen gerne auf Dritte, aber die Bibel erzählt unser Leben, sie offenbart dir dein ganz persönliches Leben, denn du hast auch einen Leib und eine Seele, die sehr genau weiß, wohin der Weg führt. Doch selbst Abraham erfährt zu Beginn nur ungefähr, wohin er sich bewegen soll. Wieso?
Es heißt, dass es diesen Berg, auf den Gott die beiden führen will, zunächst gar nicht gab. Gott gibt also einen Auftrag ohne konkretes Ziel! Erst als Abraham den Entschluss fasst, wirklich diesen Weg in Richtung des Landes Morijah einzuschlagen, bildet sich dieser konkrete Berg, „sein Berg“.

Abrahams Beispiel beantwortet auch die Frage nach der eigenen Lebensaufgabe – er soll doch Isaak „aufgeben“ (nach oben steigen lassen; עלה). Man erkennt sie erst, wenn man an dem Ort angekommen ist, wohin man im Vertrauen gegangen ist. Diese Aufgabe erhöht ihn, aber nicht zum Hochmut, sondern zur Bereitschaft Verluste statt Gewinne zu machen (Phil. 3:7 – 8). Die Seele geht bis zum Äußersten, wenn es darum geht, den Sinn des eigenen Lebens zu finden. Der Körper, sich selbst überlassen, würde dieses Maß an Unsicherheiten niemals in Erwägung ziehen. Der Körper gibt sich selbst nicht auf, er kämpft bis zum Schluss.

Man „landet“ quasi an ganz unterschiedlichen Orten, je nachdem, ob man der Seele oder dem Körper folgt. Abraham und Isaak stellen uns kein Entweder-Oder vor; die Bindung des Körpers findet eigentlich schon von Anfang an statt. Der Sohn macht nur, was der Vater sagt.
Auch wenn es stetig mit dem Alter bergab zu gehen scheint, wird uns in Gen. 22 erzählt, dass es in Wahrheit bergauf geht, wenn man der Führung der Seele folgt.

Du sollst das größte Wunder erleben, das du dir bis jetzt nicht einmal vorzustellen wagtest. Dein Körper ist derjenige, der dir den Gang durch Raum und Zeit möglich macht. Jeder Körper kommt „vierfach“, mit einer großen Expansionskraft in sich zur unbegrenzten Ausbreitung, doch die Seele weiß es tatsächlich besser: Moment, dazu bist du nicht als Wunder, das niemand für möglich hielt, hier erschienen. Du bist gekommen, um das größte Wunder überhaupt selbst zu erleben! Lass dich dahin führen.

„Nimm deinen Sohn, deinen einzigen“ – du hast nur diesen einen Körper. „Welchen du lieb hast“ – Wie sehr hängen wir an unserem Leben! Wäre es nicht so, würden wir uns kaum bewegen. Geh in das „Land Morijah“ (erez ha-morijah) lässt sich in dem, was der Ausdruck im Hebräischen zählt (551) mit dem vollen Wert der Leibseele, der nephesch in Verbindung bringen.

Wir erinnern uns: Es wird dem Menschen hoch angerechnet, dass er handelt, dass er sucht, dass er nicht aufgibt, und wir alle haben unseren eigenen Berg, dessen Ort und Namen zunächst niemand genau weiß.
Ein bekannter Berg, den wir uns selbst gesucht oder empfohlen bekommen haben, den wir mühevoll in der Absicht bestiegen haben, es nur Hier zu etwas zu bringen, erkennen wir daran, dass er uns nicht bescheiden, sondern eher überheblich macht. Daran hat die Seele kein Interesse, denn zum Hochmut gesellt sich unweigerlich die Todesangst.

Der Durchbruch dahingehend, wirklich die Einheit von Leben und Tod zu erkennen, und das ist die Auflösung der Wurzel der Angst, ist ein ganz persönliches Erleben, das mit der Bereitschaft eines tiefen Einschnittes zusammenfällt.
Die Erfahrung der Unsterblichkeit kommt gerade dadurch, dass man dem Tod ins Angesicht schaut. Im Portugiesischen bedeutet Sterben, dass etwas aus dem Sichtbaren verschwindet und die Erinnerung daran erlischt. Wenn Abraham mit Isaak den Weg geht, ist das keine große Sache in der Welt, genau wie auch die entscheidenden Momente in unserem Leben oft unbemerkt für andere ablaufen. Dabei wird das Vergängliche von uns abgestriffen, um das Unvergängliche zugänglich zu machen. Dieses Gehen, dem Folgen der Botschaft dessen, was die Seele vernommen und wohin sie den Körper führt, wird dem Menschen hoch angerechnet, denn das Leben ist nur dann voll und erfüllt, wenn der Mensch sein Hier und sein Dort als Einheit erfährt und die Vorstellung zweier voneinander getrennter Welten in ihm in eins zusammenfällt.