Gegen deinen Willen wurdest du geboren

Ziel und Zweck des Menschen ist nicht sein Dasein hier auf Erden, sondern das Jenseits. Freilich, sein Weilen hier ist ein Mittel, um das Endziel, die künftige Welt, zu erreichen. Daher werden die Weisen nicht müde, das Diesseits als den Ort und die Zeit der Vorbereitung zu schildern, und das Jenseits als den Ort der Ruhe und des Genießens. (…) Kann einer bei vernünftiger Überlegung wirklich daran glauben, dass der Mensch um des Diesseits willen geschaffen ist? Was ist denn das Leben des Menschen auf dieser Welt? Wer ist wirklich froh und glücklich hier auf Erden? Unser Leben währt 70 Jahre, und wenn es hochkommt 80 Jahre, und das beste daran ist Mühsal und Nichtigkeit (Ps. 90:10), von wie viel Leid und Krankheit und Schmerz und Unruhe ist es heimgesucht! Und dann kommt der Tod! Unter Tausenden wirst du nicht einen finden, dem die Welt wahren Genuss und wahre Freude geboten, und selbst dieser, wird er 100 Jahre, dann wird er stumpf und stirbt der Welt ab.

Vor allem! Wäre wirklich der Mensch um des Diesseits willen geschaffen, wozu ward ihm denn die Seele eingehaucht, die so hoch und erhaben ist, dass sie in der Reihe der Wesen einen noch höheren Rang einnimmt als die Engel. Hat sie doch keine Freude an den Genüssen dieser Welt, wie unsere Weisen das im Midrasch Koheleth schildern: „die Seele wird nie befriedigt”: Wie vor einer Prinzessin, die einen Kleinstädter geheiratet hat, nichts Gnade findet, was er ihr auch an Schätzen bringen mag, so die Seele: Du magst ihr alle Köstlichkeiten der Welt bieten, es ist ihr nichts, denn sie stammt ja von oben. Und in den Sprüchen der Väter heißt es: „Gegen deinen Willen wirst du gebildet, gegen deinen Willen wirst du geboren“ (Pirke Awoth 4:22). Nein, die Seele liebt nicht diese Welt, sie ist ihr zuwider. Ist es da anzunehmen, dass Gott sie zu einem Zwecke geschaffen, der ihrem Wesen nicht entspricht, ja von ihr verabscheut wird?!
So muss denn der Mensch nur für das Jenseits geschaffen, und die Seele deshalb in ihn gesetzt sein, weil sie die rechte Arbeiterin ist, weil mit ihrer Hilfe der Mensch den Lohn am rechten Platze und rechten Orte zu erlangen vermag. Dann wird der Seele nichts in dieser Welt verächtlich, sondern alles lieb und wert sein.

(Mosche Chajim Luzatto – Der Weg der Frommen, 1906)

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Autor: Dieter Miunske