Gerechtigkeit und Barmherzigkeit

image_pdfimage_print

Die Gerechtigkeit darf nicht auf der Basis der Lebensumstände der Menschen beruhen, denn dann wäre der Mensch selbst die Nr. 2 und die Umstände, in denen er sich befindet, die Nr. 1, und das wäre eine Beleidigung des Menschen. Deshalb heißt es: „Der Reiche darf nicht begünstigt werden, weil er reich ist, und der Arme nicht, weil er so bemitleidenswert und arm ist. All das ist zweitrangig; der Mensch an sich ist die Hauptsache.“ Es darf keinerlei Rolle spielen, ob man einen heruntergekommenen Obdachlosen oder einen hochdotierten Professor einer Eliteuniversität vor sich hat. Wer zwischen diesen beiden scheinbaren Extremen unterscheidet, sieht nicht den Menschen, sondern nur dessen vergängliche Hülle.
Sobald man einen Menschen gemäß seiner Lebensumstände beurteilt, gibt man dem Betreffenden schon einen Schlag ins Gesicht, denn man vermittelt ihm dadurch, auch wenn man es vielleicht gar nicht so meint: „Ach, was bist du nur für ein armer Tropf, dass du dich in solch leidlichen Umständen befindest und abhängig bist von dem, was auf dich zukommt, passiv schwimmend wie ein Treibholz auf den Wellen der Zeit, unfähig dich mit dem Wesentlichen zu verbinden, erklärst du deine Geschichte und deine Umstände zur Hauptsache deines Lebens.“ Das entspricht einem historisch-materiellen Weltbild, das die Gegebenheiten in den Mittelpunkt stellt und den Menschen seinem Wesen nach verachtet indem es ihn auf seinen Nutzen für die Gesellschaft reduziert.

Die Gerechtigkeit muss gefördert werden, indem sie nicht alleine gelassen wird, sondern mit der ihr gegenüberstehenden Barmherzigkeit verbunden wird. Die Gerechtigkeit steht als din auf der linken Seite und die Barmherzigkeit als rachamim auf der rechten Seite. Beide sehen aus wie Gegensätze, bilden jedoch eine Einheit. Deshalb darf unser Gerechtigkeitsverständnis nicht in dem Sinne sein schlechte Taten zu rächen, dem Missetäter eine Lektion zu erteilen, die er nicht mehr vergisst, um damit gleichsam alle anderen abzuschrecken, die im Begriff waren etwas Ähnliches zu tun. Diese Handhabung wird weiteres Unrecht hervorbringen und noch mehr Verdruss erzeugen. Auch eine Erziehung, die auf Lohn und Strafe aufbaut, induziert in heranwachsenden Menschen eine vollkommen verzerrte Vorstellung von Gottes Gerechtigkeit, die nie einseitig ist und die nichts mit menschlicher Rache oder Strafe gemein hat. Die Voraussetzung zur Erlangung des Gleichgewichtes zwischen beiden Seiten ist der Wille etwas ungeachtet der daraus resultierenden Konsequenzen zu tun. Es gibt einen Grundsatz, der auch hier Anwendung findet, nämlich “na’asseh w’nischma” (wir werden [zuerst] tun und dann [danach] werden wir hören bzw. verstehen, siehe 2. Mose 24:7 am Ende).

Jedem Menschen ist ein Sinn für Gerechtigkeit eingeschaffen, doch durch die Veräußerung, die mit dem Zeitenlauf einhergeht, wurde daraus immer mehr eine Forderung nach Strafe anstatt nach einem echten Ausgleich. Denn das aus dem römischen Recht stammende Prinzip der modernen Justiz, dass die Strafe auf Abschreckung, Rache und Umerziehung abzielt, ist rein heidnisch, weil es auf Nützlichkeit beruht. Die vollkommene Gerechtigkeit strebt danach, Gott zu dienen, das heißt, dass es ihr größtes Anliegen ist, das verlorene Gleichgewicht, den Bruch der Welt, die gestörte Harmonie von Gottes Schöpfung wiederherzustellen, und das kann nur dadurch passieren, dass man sich von dem Prinzip leiten lässt, das Gott selbst bei der Schöpfung hatte, nämlich dem Prinzip der Gnade und der Liebe. Diese Praxis der Gerechtigkeit hat also nichts mit den Regungen des Menschen zu tun, der bestrafen will. Gerechtigkeit kann schon dann geschehen, wenn der Mensch selbst sich seiner Tat bewusst wird, sie bereut und wiedergutmachen will und er sich von innen – nicht von außen! – stimuliert fühlt. Wenn er eine falsche Handlung wiedergutmacht, zum Beispiel eine Schädigung eines anderen, dann ist das Gleichgewicht wiederhergestellt. Sie muss nicht darin bestehen, denjenigen, der Unrecht getan hat, in einer Weise zu bestrafen, die der Zweckmäßigkeit dient.
Und deshalb muss diese Gerechtigkeit bei der Wiederherstellung des Gleichgewichts vor allem auf dem Respekt vor dem anderen beruhen, d.h., vor allem darauf, dem anderen mit Liebe und eben nicht mit Härte zu begegnen.
Dabei ist es sehr wichtig, dass man, nachdem die andere Person die Gerechtigkeit durch einsichtige Reue und eine Handlung, die einem inneren Bewegt-Sein entsprungen ist, wieder ausgeglichen hat, nicht mehr an diese vergangene Übertretung denken darf. Man glaubt es kaum, aber in der Welt ist die unglaubliche Heuchelei der so genannten Bewährung aufgekommen. Menschen, die einmal eine Übertretung begangen haben, geraten dann unter eine Art Vormundschaft, und werden permanent daran erinnert, dass sie dies oder jenes getan haben. Mit anderen Worten: Der kleinste Fehltritt kann im ungünstigsten Fall für dieses Leben hier eine nicht endende Strafe nach sich ziehen.
Wer sich selbst – aus welchen Gründen auch immer – schuldig fühlt, zeigt besonders gerne auf den anderen und möchte jenen dann auch gerne bestraft sehen. Je mehr Unglücke wir dem anderen wünschen, desto ärger sieht es mit uns selbst aus! Dass Menschen fehlen, ist allgemein menschlich, darf aber keinesfalls ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt werden, denn dadurch würde man das Äußere des Menschen mit seinem Inneren gleichsetzen und sagen, dass das Erscheinende und Wahrnehmbare das Einzige ist, was diesen Menschen ausmacht. Hierbei muss man sehr aufpassen, denn diese Art resoluter Verurteilung bekommt schnell einen unwiderruflichen Charakter. Der Mensch – jeder Mensch! – ist in seinem Kern jemand anderes, als es sich außen zeigt. Leider sieht der Mensch nur das, was vor Augen ist und wird dadurch – auch ohne Absicht – unweigerlich zum Lügner, wenn er aufgrund des Wahrgenommenen Urteile spricht. Gott alleine übersieht alles und kennt jeden Menschen durch und durch.

Ein wichtiger Punkt zur Wiederherstellung des Gleichgewichtes ist die Reue. Das Wort “Reue” ist im Hebräischen identisch mit „Trost“. Ein Tröster ist jemand, der nicht nach Recht, sondern nach Gnade handelt, weil “es” nach Gesetz nicht verstanden werden kann. Reue kann man weder machen noch fordern, es ist eine plötzliche Einsicht darein, dass man eine falsche Sicht auf die Dinge hatte. Aus einer echten Reue entsteht das Verlangen des Erstatten-Wollens wie es sich bspw. deutlich bei Zachäus in Luk. 19 zeigt. Das Augenmerk muss jedoch immer nach innen Richtung “Vaterhaus” gerichtet sein, worauf man sich zubewegt wie der ausgegangene (“verlorene”) Sohn, der umkehrt, nach Hause geht und nichts anderes mehr im Sinn hat. Dieses Sich-Nach-Innen-Wenden ist gleichbedeutend mit der Aufgabe des Außenkreises, man stirbt damit der Außenwelt, sowie der Sohn in Luk. 15 das Außerhalb-des-Vaterhauses-Sein auch aufgibt und seine gesamte Intension und das Gewicht auf seinen Ursprung legt.

Gott hat keinen Gefallen am Tod des raschá (Gottlosen), sondern dass er umkehre und lebe.

Hes. 18:23

Die Aufgabe des Richters sollte sein, durch die Liebe dem Beschuldigten zu helfen, die Tat bestmöglich wiedergutzumachen; die Zeugen, die sich gegen den anderen stellen, durch scharfes Befragen auf die Begrenztheit ihrer Aussagen hinzuweisen und so den Täter vor dem Tod zu bewahren und ihn durch all das bereit zu machen für eine wahre Umkehr. In der Hinwendung zum Vaterhaus wird er auch die innere Stabilität erlangen, mit seinen Verbrechen leben zu können. Dies ist das Recht, wie es von Menschen gehandhabt werden sollte. Indem man jemanden das Leben nimmt, löscht man auch die Möglichkeit zur Erlangung des Gleichgewichtes aus. Allein aus diesem Grund sind Hinrichtungen sehr fragwürdig.
In diesem Zusammenhang steht auch das, was wir unter Verleumdung verstehen. Eine Verleumdung bedeutet nicht nur, dass man keine Lügen über eine andere Person erzählen darf, sondern nicht einmal die Wahrheit. Man sollte so wenig wie möglich einen anderen Menschen durch Dritte analysieren, denn das man einen Menschen mit Worten klassifiziert, bedeutet, seinen Beruf und sein Tun hier in dieser Welt als zentral zu nehmen, das heißt, den äußeren Kreis (das Wahrnehmbare) zum Kern zu machen. Doch der Kern des Menschen ist ein ganz anderer und wir wissen nicht, warum er hier bestimmte Dinge tun musste, warum er in bestimmte Umstände gebracht wurde, denn wir kennen weder die Geschichte von vorher noch die von nachher, wir sehen nur einen Ausschnitt der Geschichte, wie es sich in einem bestimmten Moment zugetragen hat.

Bei all dem gilt also der Grundsatz „na’asseh w’nischma“. Wenn wir also zuerst nach diesem Prinzip verfahren und den Menschen entsprechend behandeln, werden wir erfahren, was für ein Mensch er ist, wir werden ihn unverfälscht sehen. Wenn wir erst durch Analytik in Erfahrung bringen wollen, mit welchem Menschen wir es zu tun haben, um ihn anschließend gemäß unserem erlangten Wissen über ihn zu behandeln, werden wir nie den eigentlichen Menschen sehen, sondern immer nur eine Karikatur, folglich ist eine echte Begegnung und die Möglichkeit eines Ins-Gleichgewicht-Bringens unwahrscheinlich.
Das Wort „gerecht“ wird in der Bibel zum ersten Mal in Bezug auf Noach erwähnt, der seinem Namen nach auch ein Tröster ist (1. Mose 6:9). Gerecht ist nicht der, der brav ist, sondern der mit Gott wandelt, ohne zu wissen, worauf es hinausläuft. Das gilt auch in Bezug auf den Umgang mit Menschen.

Basiert auf Ausführungen F. Weinrebs in NL um 1950