Gestutzte Flügel tragen nicht

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Wie ein Vogel, der in eine böse Falle geraten ist, wieder zu seinem Nest zurückkehrt, wenn er unbeschadet daraus zu fliehen vermochte, also kehrt die Seele wieder zu ihrem Ausgangsort zurück, sobald sie den Körper verlässt.
Unterwirft sich die Seele jedoch dem Körper und macht ihn zum Herren über sich, so gleicht sie einem Vogel, dem, nachdem er gefangen wurde, die Flügel abgeschnitten wurden. Die Befreiung aus seiner Gefangenschaft hilft ihm nicht. Die Flügel tragen nicht mehr. Fortan nistet er an der Seite des Mundes eines Abgrundes, bis er schließlich hineinfällt und so lange nicht entkommen kann, bis ihm neue Flügel gewachsen sind.
Ebenso steigt keine Seele auf, die sich der Fähigkeit berauben ließ, die dem Körper nicht zu eigen ist. Woran erkennt man das? Wer sich von Menschen einschüchtern lässt und vor ihnen zittert, wird sein Nest am Boden bauen müssen und darauf alle seine Kraft verwenden. Schließlich muss er es doch verlassen und wird noch tiefer fallen.

Ein Vogel, der einst munter flog, hopst nun hilflos am Boden. Leichte Beute für wildes Getier und die Nahrung teilt er sich mit denen, die am Boden kriechen.
Flügel (כנף) und Nest (קן) haben im Hebräischen denselben Zahlenwert (150). Wie dein Flügel, so dein Nest. Am Boden läuft ein Vogel nicht mit gespreizten Flügeln herum. Im Flug hingegen zeigt er nicht nur seine entfaltete Schönheit, sondern führt allen vor Augen, dass die Luft nicht nur zum Atmen da ist, nein, sie trägt über alle Hindernisse hinweg.

Die Größe und Pracht einer Seele zeigt sich erst, wenn sie sich erhebt. Erst jetzt bemerkt ein solcher Mensch, wie der Ruach (Geist / Wind) ihn trägt. Am Boden galt die Alternative von linkem und rechtem Fuß, aber in der Luft, im Element der Seele, gibt es diese Alternative nicht mehr. Links und Rechts arbeiten und wirken synchron in völliger Harmonie. Wo diese Harmonie nicht ist, ist die Seele am Boden; ständige Angst vor einem möglichen Feind bestimmt ihr Leben und macht dieses zur Qual.

Wer hofft, in einem Palast leben zu können und sich alleine durch geistliche Bücher und Übungen aufschwingen zu können, ist dem gleich, der einem Vogel Gewichte an die Füße bindet und ihn zum Fliegen zwingen will. Irdische Sicherheiten sind solche Gewichte, die die moderne Welt als Freiheit verkauft, und wer sie erwirbt, stutzt seiner eigenen Seele die Flügel. Wer aber die Welt einmal von oben gesehen hat, versteht ganz von selbst, worauf es ankommt. Statt ängstlich zu klagen, singt er sein Lied hoch oben im Baum, der ihm gerne dabei zuhört, was er aus anderen Welten zu erzählen hat.

(Einleitung nach Sefer HaYashar, Kapitel 12)