In Psalm 62 Vers 12 lautet es wörtlich: „Gott hat EINS geredet, ich habe ZWEI gehört.“
Die alte Deutung ist: Gott spricht ein Wort, aber es ist mehr. Immer kommt etwas Persönliches mit, das nur der versteht, der das Wort als Weiser vernimmt. Es ist, wie es nach der Geburt von Kain lautet „und sie gebärt weiter“ (ohne explizite Zeugung > 1. Mose 4:2). Gemeint ist Abel, der für das Jenseitige steht, das diesseitig nur sehr vage – wenn überhaupt – erkannt wird. Dieses Zweite ist die Verbindung von und nach oben. Meist wird es jedoch nicht ernstgenommen, sondern missachtet und verlacht, im Falle Abels sogar getötet. Den Wert dessen, was die irdische Klugheit in ihrer List verachtet, erkennt nur der Chacham, der Weise.
Der Weise ist es, der wie ein Kind über die Ereignisse staunen kann und der durch seine Offenständigkeit für mitkommende Botschaften und Hinweise empfänglich ist.
„Die Furcht des Herrn (JHWH) ist der Weisheit Anfang;“
(Psalm 111:10)
Tatsächlich wird das Wort jiráh (Furcht) dann verwendet, wenn man damit konfrontiert ist „einer Gefahr ins Auge zu schauen“. Das engl. „to fear“ (Angst haben, sich fürchten) hat die gleiche Wurzel wie das dt. Wort „Gefahr“. Jiráh ist die Furcht und auch die Angst, die von einer konkreten persönlich erkannten Bedrohung ausgehen. Diese Furcht entsteht insbesondere bei dem Menschen, der sich vor Gott bewusst oder unbewusst versteckt. Zum ersten Mal kommt der Begriff in 1. Mose 3,10 vor:
Und er sprach: „Ich hörte deine Stimme im Garten, und ich fürchtete mich, denn ich bin nackt, und ich versteckte mich.“
Diese Aussage folgt unmittelbar auf das Nehmen von der Frucht des Baumes des Wissens, also auf die Handlung hin, durch welche sie die Eigenschaften des Nachasch (Schlange) erlangten, denn „nackt“ und „listig“ sind im Hebräischen dasselbe Wort (aram / arum, 70-200-40). Wer nach Art der Schlange lebt, für den ist Gott jemand, den man lieber aus dem Leben verbannen möchte; wird man mit ihm konfrontiert (der Mensch weiß das innerlich dann sehr genau) entsteht die Angst. Für diejenigen aber, die die Verbindung zum Schöpfer suchen, zeigt sich die andere Seite des Begriffes jiráh, nämlich das Beeindruckende, das, was tiefes Erstaunen ob der Größe und der Majestät Gottes auslöst (siehe Ps. 65:6).
Etym. korrekt für jiráh ist auch „der Ruf nach konstanter Aufmerksamkeit“. Dass ein Schreckmoment unsere Aufmerksamkeit ebenfalls bannt, steht außer Frage, aber Gott hat sicher keine Freude daran Menschen zu ängstigen. Friedrich Weinreb wies zeitlebens darauf hin, dass das Wort für Furcht mit dem Sehen zusammenhängt (jiráh, 10-200-1-5, und ra’áh, 200-1-5) und vielmehr als „Staunen“ ins Deutsche übersetzt werden müsse. Dieses Staunen ist der reschith (Beginn, Anfang, Prinzip – von rosch, dem Haupt) der Weisheit. Weisheit bedeutet keinesfalls „ah, ich weiß sowieso alles, ist eh klar!“, sondern sie gehört (von den sephiroth aus gesehen) noch in den Bereich des Formlosen, Unausdrückbaren. Sämtliche Ereignisse in unserem Leben sind Gottes Ruf nach ungeteilter Aufmerksamkeit. Einbezogen ist dabei, dass wir nie alleine sind, sondern uns immer jemand gegenübersteht, der den gesamten Lauf der Welt in seinen Händen hält.
Die ZWEI im obigen Psalmvers bezeichnet also etwas Mitschwingendes, wie es auch in der Musik beim Anspielen eines Tones vorkommt. Unmittelbar entstehen Ober- und Untertöne in Referenz zum angespielten Ton.
Unser Alltag, unsere Begegnungen, unsere Erlebnisse, all das ist Sprache und immer kommt etwas mit, wodurch wir als Staunende Hinweise für uns bekommen, die uns „von dorther“ gesandt werden. Obertöne sind maßgeblich für den Charakter eines Klanges verantwortlich. Sie sind immer Vielfache des Grundtones. So ist Gottes Sprechen ein Tönen, das im Weisen zur Musik wird, im Spötter jedoch verstummt, weil dieser dem Wunder keinen (Resonanz)Raum gibt. Die Weisheit äußert sich eher in einem stillen „ah, ich habe verstanden“, obwohl in der „getönten“ Information (noch) nicht die volle Nachricht enthalten war. Der Mensch ist immer beteiligt – so oder so, ob er will oder nicht. Dem Weisen genügt ein kleiner Hinweis und Gott lässt ihn nicht alleine, der Spötter dagegen muss sein Schicksal alleine tragen (siehe Spr. 9:12).
Der Spötter ist im Hebräischen ein luz, 30-6-90, also jemand “der mittels der Rede manipuliert” und “auf verzerrende Art und Weise interpretiert“. Die dabei gewählten Worte sind keineswegs aus der unteren Schublade, sondern vielmehr hochtrabend, verhöhnend, gewählt und können sogar poetisch sein. Luz bedeutet aber auch Dolmetscher und dass ausgerechnet Joseph einen luz im Gespräch mit seinen Brüdern verwendet (1. Mose 42:23), obwohl er ihn nicht gebraucht hätte, entspricht der Art Gottes, der denjenigen, die ihn verraten haben, so begegnet wie sie ihm begegnet sind: ohne Respekt. Man könnte weiter fragen, ob Gott mit einer Menschheit, die über ihn lacht, ihn verhöhnt und alles besser weiß, über solche Dolmetscher wieder Kontakt aufnimmt, die dem Wesen nach ein luz sind. Dolmetscher sind (wie sie im Portugiesischen auch genannt werden) Interpreten, also Mittler, die zwischen zwei Seiten verhandeln. In der Geschichte Josephs wandelt sich dann über die Reue der Brüder die Angst in großes Staunen. Besser kann man den Begriff jiráh kaum beschreiben.