Joseph fordert Benjamin nach Ägypten

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Wenn man bspw. mit Deutsch als Muttersprache aufgewachsen ist, kann man im Ausland, wo kein Deutsch gesprochen wird, die eigene Sprache, wenn man auch nur wenige Wörter hört, nicht nicht-verstehen. Man versteht die Muttersprache, ob man will oder nicht, man hat keine Wahl.

Ebenso ist die Sprache des Jenseitigen die Muttersprache der im Menschen wohnhaften NESCHAMAH, der göttlichen Seele, der Botschafterin von dort. Die Seele wird ihre eigene Sprache sofort verstehen, sobald sie davon hört, so wie Joseph auch direkt seine Brüder versteht, wenn diese nach Ägypten kommen, aber trotzdem redet er mit ihnen durch einen Dolmetscher (Gen. 42:23). 

Aufgrund eines grundlegenden Missverständnisses zwischen Seele und Leib gibt sich Joseph zunächst einmal nicht zu erkennen. Wenn der Mensch in seinem eigenen Jenseitigen nicht an seine einmalige Erwählung glaubt, die zu „seiner 12“ gehört (12 Brüder Jakobs), verübt er dadurch einen Verrat, der bewirkt, dass man das Jenseitige (Joseph) in Ägypten (der Welt der Formen) nicht mehr erkennt. Man glaubt dann, dass der, der das Brot austeilt, ein Ägypter ist. Solange man glaubt, dass das, was uns wirklich satt macht, nur von MIZRAJIM verwaltet und zugeteilt wird, hat man nicht erkannt, dass der eigentliche Gabenverwalter der eigene Bruder ist. In diesem Fall bedeutet das, dass es der eigene jenseitige „Teil“ (Bruder) ist, der aufgrund des Verrates zum Ernährer wurde. In dieser Geschichte wird quasi erzählt, dass die Substanz, die den Hunger stillt, tatsächlich etwas aus Ägypten ist. Es ist etwas ganz Konkretes, Greifbares, etwas, das man verarbeiten und schmackhaft machen kann.

Josephs explizite Forderung nach seinem Bruder Benjamin wird erst richtig verständlich, wenn man weiß, dass die Söhne Jakobs unterschiedlich gezählt werden. Man unterscheidet in der Zählung dieser Söhne auch zwischen den Söhnen mit den „richtigen“ Frauen (Leah und Rachel) und den Söhnen, die mit den „Nebenfrauen“ (Bilhah und Silpah) geboren wurden. In der Reihe der „richtigen“ Söhne ist Joseph der 7. und Benjamin der 8. Sohn.

Joseph gibt sich erst zu erkennen, die jenseitige Sprache öffnet sich in der Sieben erst dann, wenn der Achte auch nach Ägypten kommt. Joseph zwingt seine Brüder regelrecht seinen einzigen echten Bruder Benjamin (nur die beiden haben Rachel als Mutter) mitzubringen. Das gestaltet sich nicht so einfach.

Jakob liebt seinen Sohn Joseph, den Siebten, sowie Gott die Welt liebt, wie David die Bath-Scheváh (übersetzt „Tochter [der] Sieben“) liebt; in der Sieben findet die Konfrontation zwischen Diesseits und Jenseits statt. Hier offenbart sich die Liebe, aber nur wenn der Achte kommt, wird der Siebte verständlich und spricht direkt ohne Übersetzer. Deshalb muss Benjamin, bei dessen Geburt die Mutter der beiden stirbt, auch nach Ägypten. Joseph steht als Erstgeborener der Rachel in einer gewissen Beziehung zu R(e)uven, der der Erstgeborene Leahs ist. Benjamin steht als 2. Sohn Rachels in einer Beziehung zu Schim‘on (Simeon), der der 2. Sohn Leahs ist. Dass Joseph Schim’on gefangen nimmt (Gen. 42:24), ist keine Willkür, sondern Ausdruck der Kenntnis innerer Verbindungen. 

Die 7 und die 8 haben gemeinsam, dass der körperliche Ursprung (ihre Mutter) nicht mehr „begreifbar“ ist. Der Achte (Benjamin) lernt seine Mutter nie kennen, weil sie bei dessen Geburt stirbt, deshalb fehlt ihm die „natürliche“ Beziehung zur Mutter. 

Das gleiche Muster finden wir auch im NT: „Weib, was habe ich mit dir zu schaffen?“, sagt Jesus zu seiner Mutter (Joh. 2:4). Aus soziologischer Sicht ist das natürlich bedenklich, was er da sagt, aber hier geht es doch um weitaus mehr als um eine Familiengeschichte. Im Griechischen sagt er γυνή (gyne), das zurecht mit „Frau“ (früher mit „Weib“) übersetzt wurde. Sprachlich hängt das griech. γυνή (gyne) mit γινομαι gínomai zusammen, und das ist das Werden. Das Weibliche lässt die Körper entstehen, ermöglicht das Werden, den Weg, die Entwicklung. 

Das Zitat aus Johannes 2 ist erläuternd etwas geweitet, denn eigentlich sagt er nur: „Was zu mir und was zu dir?“ (Τί ἐμοὶ καὶ σοί) Oder anders: Was ist nun Sein und was ist Werden? Kommt erst die Ursache oder erst die Wirkung? Mit deiner Art des Verständnisses kannst du vom Heiligen nichts begreifen! Dann verweist Jesus darauf, dass „seine Stunde noch nicht gekommen ist“ (ebd.). Jetzt sagt der Teil, der das Werden ermöglicht (die Mutter): „Was er euch sagt, das tut!“ Mit anderen Worten: Handle nicht anhand dessen, was das Hervorbringende, Erklärbare dir suggeriert, sondern handle direkt aus der Quelle, die einer anderen Kausalität entspringt.

Doch zurück zu Joseph und Benjamin. Erst wenn Benjamin, die 8, in die Welt der Formen (der 6, „Ägypten“) ankommt, verzichtet Joseph auf den Übersetzer und dann findet dieses grandiose Wiedererkennen statt, das mit einer emotionalen Entladung einhergeht (Gen. 45:2 ff.). Auf einmal verstehen sich alle mühelos miteinander; alle sprechen dieselbe Sprache. Eigentlich sprach Joseph schon zuvor dieselbe Sprache, aber das Verhalten seiner älteren Brüder blockierte ihn. Josephs Beharrlichkeit zielt darauf ab, dass er keine billige Wiedervereinigung akzeptieren wird. Der Verrat an ihm ist nicht mit einem „Ach, tut uns leid“ oder einem „Ist damals etwas dumm gelaufen, heute würden wir das sicher nicht mehr machen!“, abgetan. 

Joseph war im kausalen Sinne nicht schuld daran, dass er verkauft wurde. Wäre dem so, würde das bedeuten, dass er bei der ersten Begegnung mit seinen Brüdern gesagt hätte: „Ach, ich bin es doch, euer Bruder. Sicher würdet ihr heute anders handeln, ihr konntet ja damals nicht anders als mich verkaufen, schließlich war ich ja auch ganz schön eingebildet.“ Was wäre passiert? Die Brüder hätten für ihren Verrat noch eine Belohnung eingefordert! Sie wären noch stolz darauf gewesen, den Verrat begangen zu haben. So wäre es nie zu einem gegenseitigen Erkennen in Respekt und Würde gekommen. 

Nun müssen wir uns fragen: Sind wir nicht diejenigen, die verraten wurden? Beschleicht nicht jeden Menschen irgendwann einmal das Gefühl: Was mache ich eigentlich hier? Wer hat mich hierher in die Welt der Formen gebracht? Suchen wir nicht allzu schnell eine billige Antwort, indem wir sagen: Sicher ist es meine Schuld! Nein, es ist nicht deine Schuld! Die Josephsgeschichte beantwortet die Frage vielschichtig und tiefsinnig. Wenn du keine Bestimmung hättest, wärest du nicht hier in der Welt, wärest du nicht in „Ägypten“. Frage so lange, bis der bislang jenseitig gebliebene Teil (der Vater und die Brüder) bei dir selbst zur Einsicht kommt – fordere (als Joseph) die Begegnung mit dem Achten, dann löst sich die Blockade und du wirst keinen Übersetzer mehr brauchen, denn du sprichst alle Sprachen; sprichst mit dem Ivri genauso wie mit dem Pharao, bist gelehrt in allen Sprachen und so bist du auch versöhnt mit deinem Schicksal, verstehst, dass alles so hat sein müssen, doch dem Wegbereiter des Kalküls musste die Arroganz gebrochen werden.

Solange ein Mensch nichts von der Bedeutung des Diesseitigen für das Ewige versteht, bleibt er freiwillig Knecht und muss dienen, zur Ruhe kommt er nicht (s. Gen. 47:4 – Josephs Brüder sagen von sich, dass sie Diener Pharaos sind!). Kind des Höchsten zu heißen impliziert jedoch, dass etwas bzw. jemand in uns ist, der uns sofort, wenn er die Wahrheit sprechen hört, eine innerliche Bestätigung gibt: Ja, das ist die Sprache von zu Hause!
Der Grund für das Erscheinen der Brüder Josephs in Ägypten war der Hunger. Im Hebräischen wird das Wort für „Hunger“ mit denselben Zeichen geschrieben, wie das Jenseitige (RA’AV > EVER). 

Könnte unsere eigene Bestimmung für das Leben hier darin liegen, dass wir unseren Hunger gestillt bekommen wollen oder sollen? Mehrfach heißt es in der Bibel „er starb alt und lebenssatt“ (z.B. Gen. 25:8; 35:29; 1. Chr. 23:1 u.a.). „Satt“ als Wort teilt sich im Hebräischen 2 von 3 Zeichen mit dem Wort für „Sieben“, nämlich die BETH (2) und die AJIN (70). Im Wort zeigt sich die Sättigung durch eine Wandlung der 200 (RESCH), zur 300 (SIN). Spricht man das Wort SAVÁ (satt) mit der SCHIN aus, erhält man SCHEVÁ, und das ist die Zahl 7.

Hier in der Welt der 7 bekommen wir unseren Hunger gestillt. Unser Leben beginnt mit vielen Fragen und innerer Zerrissenheit, wir wurden verraten – zumindest empfinden das einige so – und wir verraten uns selbst, sobald wir sagen: „Ach, was soll dieses Leben hier, es ist doch alles vergänglich und damit sinnlos.“ Doch es gibt jemand in uns, der das Ziel nie aus den Augen verloren hat, der sich seiner Herkunft erinnert, wenngleich leidend, warum alles hatte so kommen müssen. Dieser verratene Ivri ist zugleich auch der Treue; er spricht am Ende: 

Und nun, fürchtet euch nicht; ich werde euch und eure Kinder versorgen. Und er tröstete sie und redete zu ihrem Herzen.

Gen. 50:21

Für „Kinder“ wird an dieser Stelle ein eigenartiges Wort verwendet, nämlich TAPH, 9+80, das von TAPHAPH, 9+80+80, stammt. TAPHAPH ist etym. das Torkeln, Wanken, Schwanken, Taumeln (allerdings auch im Sinne eines affektierten anzüglichen Ganges mit lauten Schritten), als wollte Joseph sagen: Auch wenn von dir etwas kommt (Kinder!), das torkelt, wankt, schwankt, taumelt und nur mit unsicheren Schritten imstande ist zu gehen, ja, selbst wenn … ich werde mich darum kümmern und ich werde sie alle versorgen! Der Ivri kümmert sich, nicht der Pharao! Das Ewige richtet auf, das Zeitliche richtet zugrunde, doch kann der Ivri das Zeitliche zu etwas Erhebendem machen – oder auf andere Art formuliert: Wenn uns das Zeitliche, das praktische konkrete Leben erfreut, erhebt und sättigt, dann kommt das nicht aus dem Zeitlichen selbst, sondern aus dem Umstand, dass das Ewige das Diesseitige in diesem Moment konkret „verwaltet“ hat, so wie Joseph durch die richtige Einteilung des Diesseitigen alle sättigt und niemand ausschließt.