Bevor der Mensch vom Baum der Erkenntnis aß, war er im Zustand des Lichtes (אור). Er war im Zustand der „1“, stand in einer anderen Welt außerhalb der uns bekannten Raum-Zeit-Begrenzung und erfüllte alles wie das Licht, wenn man es nicht begrenzt. Das Durchbrechen der Zeit zerbricht auch die Grenzen, die das Licht hindern durchzudringen. Dort im Außerzeitlichen, im Ewigen, wo es keinen Zeitenlauf im irdischen Sinne gibt, ist das eigentliche Zuhause des Menschen. Das Rechnen mit Zeit sperrt das Licht aus, es ist wie ein Errichten von Mauern, die einschließen und selbst sonnige Tage in Finsternis erleben lassen.
Sobald der Mensch von dem Baum des Wissens nimmt – und das kann nur seine weibliche Seite, die mit der Art des Wissens zusammenhängt, das an das äußere Sehen gekoppelt ist –, verlässt er den Zustand im Licht, was sich sprachlich darin ausdrückt, dass die „1“ durch eine „70“ ausgetauscht wird (Aleph <> Ajin).
Aus dem Wort Licht wird das Wort Haut, was aber nur schriftlich erkannt werden kann. Mündlich erzählt ist der Zustand vor und nach dem Fall nicht unterscheidbar. Vorher war er im OR (Licht) und nachher ist er in der OR (Haut).
OR, mit der Ajin geschrieben, ist die Haut, insbesondere die Haut eines Tieres, weshalb man das Wort auch mit Fell übersetzt. Eigentlich bedeutet OR, dass man sich in der Hülle eines Tieres versteckt (engl. animal hide). Nur noch das Äußere zu sehen und anzuerkennen, deutet darauf hin, in die Hülle des Tieres gefallen zu sein. Da jedes erscheinende Ding glücklicherweise auch sein „Gegen-Ding“ hat, ist mit der Haut deutlich mehr los, als es scheint.
Sie ist es, die im Hebräischen direkt mit dem „Aufwecken durch die Aufnahme externer Impulse“ zu tun hat. Deshalb ist Hautkontakt für jeden Menschen von elementarster Bedeutung. Eine Berührung kann ihn aufwecken und an seine Herkunft erinnern, wo alles verbunden war. Unbewusst weiß jeder Mensch, dass er aus einer Einheit herausgefallen ist. Sehr stark finden wir das bei Neugeborenen, die nicht nur gestillt und durch die Stimme der Mutter angesprochen werden wollen, sondern gerade den Hautkontakt zur Mutter suchen. Letztlich zieht es sich durch das ganze Leben eines Menschen, wodurch sich – ich wiederhole – unbewusst ausdrückt, dass etwas bei ihm zertrümmert wurde, das wieder verbunden werden will. Die Wörter für Junge (נער) oder Mädchen (נערה) im jugendlichen Alter enthalten den Begriff OR (Haut) in sich. Mit der NUN zu Beginn bedeutet das Wort nicht nur Junge oder Mädchen, sondern auch aufwachen, aufwecken, schütteln und „brüllender Esel“, d. h. dass der Körper erwacht.
Wenn in jungen Menschen beider Geschlechter das Bewusstsein vom Suchen nach einem Sinn für das Leben entsteht, wächst auch das Bedürfnis nach Hautkontakt mit einem Gegenüber außerhalb der Familie. Dieses Verlangen hängt letztlich mit dem Wunsch zusammen, eine eigene Familie zu gründen, deren essenzielle Bedeutung ist, dem Menschen dabei zu helfen, ein Empfinden für sein eigentliches inneres Zuhause neu zu erwecken. Es ist auffällig, dass die Kerngeschichten der Bibel in erster Linie Familiengeschichten sind. Natürlich geht es um weitaus mehr als um das, was wir äußerlich unter einer Familie verstehen, aber schon bei der Betrachtung des hebr. Wortes für Familie und Verwandtschaft, das es sogar bis in die dt. Sprache geschafft hat, nämlich MISCHPOCHE, finden wir die Verbindung mit SAPHAH, der Lippe bzw. der Sprache (wir sprechen in der Regel die Sprache unserer Familie) und mit SCHIPÁH, das glätten, entschädigen aber auch abreiben bedeutet. Die uns am nächsten stehen, haben die abrasivste Wirkung auf uns (von denen erhalten wir die stärkste „Abreibung“).
Beim Reiben kommt in Bezug auf die Haut zu dem Streichen oder Streicheln noch ein Druck dazu. Thematisch und sprachlich gehört hierzu auch die Massage, die eine wichtige Rolle in der Behandlung des Körpers einnimmt. Das ist nur ein Beispiel von vielen, worin sich unbewusst die Suche des Menschen zurück zu dem Zustand ausdrückt, wo er mit allem verbunden war.
Das Weg-Nehmen der „1“ bedeutet simultan das Geben der Zeit (Wasser) und damit entsteht ein Weg (der Entwicklung), der jedoch in Finsternis beginnt. Genau so finden wir die Entstehung eines neuen Körpers in einer Frau, die diesen nach einer Zeit der Reifung ins Licht entlässt (gebiert). Im Portugiesischen sagt man zu einer Geburt „ins Licht geben“ (dar à luz). Allgemeiner kann man sagen: Mit dem Nehmen der Frucht (vom Baum der Erkenntnis), beginnt der Weg durch die (Raum-)Zeit in Dunkelheit auf Hoffnung, dass der Mensch seiner Sehnsucht Raum gebe, wieder zur „1“ zurückzukehren. Das Wieder-ins-Licht-Kommen hängt direkt mit einer Geburt bzw. Wiedergeburt zusammen.
Das Gehen in der Finsternis will sagen, dass kein Mensch hienieden alles überschauen kann. Auch die größten Seher überblicken nur kleine Areale des großen Ganzen; das Sehen mit zwei Augen bleibt zerteilt und begrenzt.
Im Ur-Zustand des Menschen umfasste das Sehen die gesamte Zeit. Darauf verweist unter anderem das mythologische 3. Auge. Der mythologische Mensch hatte dort ein Auge, wo der Haaransatz beginnt. An dieser Stelle sitzt beim Anlegen der Kopf-Tefillin (Gebetsriemen) die Totafot (Kapsel – eigentlich „die doppelte TETH“). Rudimentär ist es noch bei einigen Tieren vorhanden und auch das neugeborene Kind hat einen weichen Bereich im Schädel (große Fontanelle), wo das Auge einst war. Jetzt ist dieses Auge durch ein anderes Organ ersetzt worden, das nicht mehr nach außen, sondern nach innen wirkt. Es ist zu einer Drüse mit innerer Sekretion geworden, die Hypophyse (Hirnanhangdrüse) genannt wird.
Diese Hypophyse ist unter anderem mit der Funktion der Geschlechtsdrüsen verbunden und steht in Kontakt mit diesen. Um die Wehen zu fördern, wird unter anderem das von dieser Hirnanhangdrüse produzierte Hormon (Oxytocin) ausgeschüttet. Der Mensch im Zustand nach dem Nehmen vom Baum der Erkenntnis lebt zwar auch ewig, aber nur noch durch seine Fortpflanzung, es ist jetzt eine gebrochene Ewigkeit, die sich fragmentiert im Zeitlichen zeigt. Die gesamte Kette aller Generationen macht den ganzen Menschen aus. Aber der einzelne Mensch inmitten dieser Kette kennt nur einen Teil der Zeit.
Das Hormon Oxytocin hat seinen Namen von den griechischen Wörtern „oxys“ (schnell) und „tokos“ (Geburt) bzw. „tiktein“ (gebären). Der Name spiegelt die ursprüngliche Entdeckung und Funktion von Oxytocin wider, nämlich seine Rolle bei der Auslösung und Beschleunigung von Wehen während der Geburt. Das Hormon wurde zuerst wegen seiner Wirkung auf die Gebärmutterkontraktionen bei der Entbindung identifiziert.
Alle Geburten, alle Generationen zusammen genommen, überblicken den gesamten Lauf der Zeit, so wie es der Mensch am Anfang konnte. An die Stelle des 3. Auges, des Mittelauges, ist nun das Haar getreten. Das Haar kommt überall dorthin, wo die Zeit wirkt. Deshalb schämte sich der Mensch einst auch für seine Haare, so wie er sich des Falles schämte, und deshalb gab es den Brauch, sogar das Kopfhaar zu bedecken, so wie die Menschen auch heute noch die anderen Stellen des Körpers bedecken, an denen Haare wachsen oder sich konzentrieren, weil diese Orte mit einer erhöhten Verantwortung im Handeln einhergehen.
Wenn der Mensch aus dem Paradies vertrieben wird, macht er das in der OR (עור), dem „Kleidungsstück“, das Gott ihm gab. Im Hebräischen ist die Haut identisch mit den Verben „erblinden“ und „blenden“ (dann IWER ausgesprochen). Mit dieser Kenntnis sind auch NT-Verse wie 1. Joh. 2:11 leichter zu verstehen, wo davon die Rede ist, dass die Finsternis die Augen geblendet hat. Das ausschließliche Anerkennen einer diesseitigen sichtbaren „Realität“ ist diese Blindheit, die auf zwei Augen begrenzt ist, durch die man alles „durch das Wasser“ (zeitlich) sieht. Es zeigt sich bis ins Äußerste, dass unsere Augen nicht in der Lage sind, mit sehr hellem Licht konfrontiert zu werden. Das diesseitige Sehen macht die Augen immer blendempfindlicher. Man denke nur an die immer häufiger werdenden „notwendigen“ Sonnenbrillen, deren marktwirtschaftlicher Siegeszug seit rund 100 Jahren ungebrochen mit steigender Tendenz fortschreitet.
Das menschliche Auge besteht anatomisch aus ca. 80 % Wasser, worin sich wieder das 1:4 Prinzip zeigt. Auge heißt AJIN (עין), genau wie der Buchstabe, der anstelle der ALEPH kommt. Die AJIN zählt 130 (70+10+50). Zwei Augen zählen 260 und drei Augen 390. Die Summe dreier Augen ist auch die Summe des Wortes für Himmel, SCHAMAJIM (300+40+10+40 = 390).
Werfen wir abschließend noch einen Blick in das Buch Hiob, wo wir am Ende den bekannten Ausspruch finden: So habe ich denn beurteilt, was ich nicht verstand, Dinge, zu wunderbar für mich, die ich nicht kannte. (…) Mit dem Hören des Ohres hatte ich von dir gehört, aber nun hat mein Auge dich gesehen. (Hiob 42, ab Vers 3)
„Mein Auge“? Warum spricht Hiob nur von einem Auge? Im 42. Kapitel kommt die Lösung, kommt Hiobs persönliche Erlösung. Jetzt sieht er selbst. So versteht man auch die Salbung: Das, was zunächst nur innerlich vermutet wurde, wird jetzt auch konkret im Außen erkannt. Es ist ein Sehen, das sich nicht mehr vom Wahrnehmbaren begrenzen lässt – immer steckt noch etwas ganz anderes dahinter: Hiob durchschaut es.
An der Stelle zwischen den beiden Augen (…) erfolgt die Salbung, wodurch die Verbindung mit dem anderen Auge im Wesentlichen hergestellt wird. „Salbung“ bedeutet nichts anderes als Verbindung mit dem Himmel, wie schon aus dem Zusammenhang zwischen den Worten »schemen«, 300+40+50 = 390, Öl, und »schamajim«, 300+40+10+40 = 390, Himmel, hervorgeht. Durch die Salbung an dieser Stelle wird das andere Auge wieder geöffnet. Der Mensch öffnet sich für das Andere.
Weinreb, Das Opfer in der Bibel, Seite 624
Diese Sicht ist mit der doppelten TETH (Totafot, s. oben) gemeint: Mit deinem Denken und deinem scharfen Verstand gelangst du nie dorthin. Erst wenn du liebst, öffnet sich der Vorhang! Durch die kalte Einsicht des Verstandes, die der Nachasch (Schlange) der Eva verheißt, heißt es, wird niemand glücklich. Erklärungen, die das und vor allem DEN “dahinter” nicht einbeziehen, haben eine tödliche Wirkung auf die Vitalität des Menschen.
Du ahnst nicht einmal, welche Überraschungen jenseits des Denkens dich erwarten, was Liebe alles geben kann! Du denkst, rechnest, berechnest, überlegst; die Liebe aber ist nicht zu fassen. Dein Gefäß ist dazu zu klein. – Warum denn? Nun, weil auch von deiner Liebe erwartet wird, dass sie nicht berechnend ist, z. B. in dem Sinn, dass du denkst, sie sollte dich glücklich machen.
Kannst du lieben, auch wenn der Geliebte, der allein dich glücklich machen könnte, dich hasst?Weinreb, Leiblichkeit, Seite 86