Friedrich Weinreb in Der biblische Kalender – Der Monat Siwan
(…) wir behaupten dann ganz vernünftig, dass die Natur grausam ist. Wir sagen das, weil die Wahrnehmung unserer Sinne dies uns klar vermittelt. So halten wir uns für besser als Gott. Wie wir uns auch immer besser vorkommen als unsere Nächsten, ganz zu schweigen von Fremden oder gar Feinden. Gott gibt uns beide Verhaltensmöglichkeiten:
Zum einen können wir alles nach unserem Leben messen, nach dem Gefühl, der Hoffnung, ewig zu leben; und dann alles Leben so empfinden, dem Leben das Beste gönnend und wünschend. Zum anderen können wir alles nach unseren Sinnen sehen und beurteilen; das heißt, die Träume, die Wünsche, das Gutes-Gönnen als unwissenschaftlich, als unwahr ausschalten. Leben ist dann nur das, was wir wissenschaftlich wahrnehmen, sogar als Spuk wahrnehmen. Sonst gibt es kein Leben. Frühere Generationen also, die wir nicht sehen und nicht hören, sind tot, weg, verschwunden. Die erste Möglichkeit heißt in der Bibel der Baum des Lebens. Leben wächst wie ein Baum, hat Wurzeln, seinen Stamm, hat Zweige, Blätter und Früchte. In Früchten lebt die Saat, lebt der Baum über die Zeiten hinweg. Wenn wir so leben, sind im Verborgenen die Wurzeln da, wächst der Stamm, wird dicker und fester, Seitenstämme zweigen sich ab, es kommen Blätter, eine Krone und das Wunder vom bleibenden Leben in den Früchten. Süß schmecken sie, auf allen Ebenen des Lebens. Die andere Art des Verhaltens begrenzt alles auf das Gebiet der sinnlichen Wahrnehmung. Auch da sind Wurzeln, ein Stamm, Zweige, Blätter, und kommen auch Früchte. Es sind aber Früchte mit dem Leben in Begrenzungen, Früchte dieser Alternative.
Wozu aber dann zwei Bäume? Wäre der erste nicht befriedigend? Alles wäre dann doch gut! Aber bedenkt, jetzt kommt der Gott der Liebe. Kein Selbstgemachter, kein Götze, sondern tatsächlich der Gott der Liebe. Denn Liebe hier ist das Sich-äußern des ewigen Lebens. Deshalb sind beide Bäume so süß, so unverstanden, so missverstanden. Wer ewiges Leben ersehnt, ersehnt auch Liebe. Beide Bäume sind aus derselben Wurzel, sind Gottes Verborgenheit, sind Gottes Inneres und damit auch Gottes Angesicht. Wenn du liebst, wirst du nicht dein Inneres, dein Verborgenes, deine Sehnsucht nach Ewigkeit, deine Hoffnung, deine Wünsche, dein Gutes-Gönnen begrenzen und einen Teil des Lebens ausschalten. Du gönnst dem Geliebten gerade alles. Du erträumst mehr, als je möglich ist, du träumst die Wahrheit des Unmöglichen. Weil du dich genauso geliebt weißt, wie du selber liebst. Als Fundament, als Wurzel, ohne jede Grenze ist dieses gute Leben für alle da. Der Liebende und der Geliebte lachen über alle Versuchung. Denn die Versuchung ist der Hang nach Begrenzung, nach Ausgrenzung. Dazu ist der zweite Baum da, die zweite Art des Wachstums, der Entwicklung.
Wenn wir also das Leben auf das hier Sichtbare begrenzen, haben wir die Liebe ausgegrenzt. Dann haben wir unsere Träume, unsere unausgesprochenen Wünsche ausgeschaltet. Denn sie sind nicht gescheit. Als gescheit aber gilt gerade all das, was dieses begrenzte Leben zum >Leben an sich<, zum Leben überhaupt proklamiert. Wir nennen uns wissenschaftlich gescheit, wenn wir die Natur kritisieren, wenn wir die Welt zu einer Art göttlichen Fehlplanung degradieren. Wir urteilen. Aber was sind wir noch, wenn wir unsere Träume und Wünsche, unser Beten und Hoffen ausgrenzen? Denn all das fällt ja unter die Gesetze der Begrenzung auf das Nur-Beweisbare. Liebe aber kann nicht bewiesen werden, Liebe ist das Sein überhaupt.