… oder: Widme Zeit dem, was dich nähren soll.
Die Speise wird auf dem Weg der Verdauung verflüssigt. Was nicht verflüssigt werden kann, kann auch nicht aufgenommen werden. Erst am Ende des Verdauungsweges wird die Flüssigkeit wieder entzogen.
Wenn wir dem, was wir aufnehmen, keine Zeit zuteilwerden lassen, kann es uns nicht nähren und dient somit nicht dem Leben. Noch nicht einmal schlucken können wir etwas Trockenes. Freut sich jemand beim Anblick eines guten Essens, kann es passieren, dass das Wasser im Mund zusammenläuft. Diese Reaktion drückt aus, dass man unbedingt einswerden will mit der Speise. Dazu produziert der Körper entsprechende Flüssigkeiten, um den Vorgang zu vereinfachen oder ihn überhaupt erst möglich zu machen.
Das Trockene hat keine Dauer und kennt keine Veränderung. Es muss fließen, sich bewegen, um sich oder andere zu verändern. Stellt man das hebräische Wort für fließen (שטף) um, erhält man שפט, schofet, das Richten. Das Buch der Richter ist danach benannt, es heißt schoftim (שפטים). Schofet bedeutet „Wiederherstellung der Harmonie“ und „wieder in die richtige Reihenfolge bringen“ oder „Wiederherstellung der Ordnung“.
Würde man einen Hafen trockenlegen, wer will dann ein Schiff von einem falschen Liegeplatz an einen anderen bringen? Dieses Szenario kann man manchmal dort beobachten, wo es einen ausgeprägten Tidenhub gibt. Aber kommt das Wasser, ist es keine große Sache, tonnenschwere Schiffe von A nach B zu manövrieren.
Wie in der Außenwelt, so fließt es auch in unserer Innenwelt. Unser Verdauungssystem gleicht einem sieben bis neun Meter langen, lebendigen und gewundenen Schlauch, durch den nach dem Essen ein Strom flüssiger Nahrung fließt. An mehreren Schleusen – den Schließmuskeln – entscheidet sich, ob dieser Strom weiterziehen darf oder gestaut wird, bis das Tor den nächsten Abschnitt auf dem Weg durch das Dunkle freigibt.
„Essen“ heißt auf Hebräisch אכל (achal) und „Verdauen“ עכל (achal). Moment, das ist doch identisch? Im Sprechen ja, schriftlich nein. Wir erkennen leicht, dass nur der erste Buchstabe ausgetauscht wird: Aus der 1, der Alef (א), die das Essen bestimmt, wird, um den Weg der Verdauung zu benennen, eine Ajin (ע), eine 70. Essen ohne Verdauung ist so sinnlos wie von der Ewigkeit zu reden, aber das Leben hier in der Dauer der Zeit abzulehnen. Es braucht die 70, die Vielheit der Welt, um das „dort“ Aufgenommene zu seiner Bestimmung „hier“ gelangen zu lassen.
Umgedreht ist es so, dass es ohne das Essen gar keine Verdauung gibt. Der Schlauch bleibt dann leer wie ein Fluss ohne Wasser. Der Vielheit (70) geht damit die Einheit (1) voraus. Jeder Vielheit geht die Einheit voraus, denn Vielheit ist zerbrochene Einheit. Außerhalb der 1 gibt es zunächst nichts. Weinreb betonte, dass die 1 nicht die Zahl vor der 2 ist. Das ist ein ganz falscher Ansatz, der davon ausgeht, dass schon immer alles irgendwie da war. Die 1 ist alles in einer nicht zu fassenden Einheit. Deshalb zerbricht sie, deshalb opfert sie sich, und gibt sich hin, wie sich die Speise auch gewissermaßen hingibt, wenn wir sie im Mund mit den Zähnen zerbrechen, zerteilen und zermalmen.
Das Ewige kannst du nur aufnehmen, wenn du es fast bis zur Unkenntlichkeit zerteilst, und was ist ein Urteil anderes als ein Teilen? Wie sind wir mit Situationen nach dem Erleben beschäftigt! Das hätte ich anders machen können, das hätte ich nicht sagen sollen, ach, wäre ich doch da langgefahren, warum war ich nur so dumm … usw. _Wir zerteilen, was uns geschickt wurde, und genau so findet es seinen Weg in unser Innerstes. Und dann kommt der 2fel, der Beginn der Vielheit. Ereignisse _passieren uns, Dinge geschehen unerwartet und wir müssen manches einstecken, sozusagen schlucken, was uns nicht immer geschmeckt hat. Oft bleibt uns nichts anderes übrig.
Jetzt entzieht es sich ins Verborgene und geht dort seinen Weg. Wir freuen uns natürlich, wenn das Essen schmeckt und wir dadurch satt werden. Was kümmert uns der Rest, wenn die Verdauung funktioniert? Die Reise des Aufgenommenen im Inneren ermöglicht uns die Weiterreise im Außen. Weshalb sind wir auf unserem Lebensweg so besorgt? Weil er im Dunkel verläuft und alles in eine Vielheit zertrümmert wurde, sodass wir die eigentlichen Zusammenhänge nicht mehr erkennen können. Was wir aber sehr wohl erkennen, ist das Aufkommen von Kraft und Lebendigkeit, die durch das Wirken im Verborgenen ihre Nahrung finden.
Hier in der Welt ist die Dauer, der Weg der Zeit, dort im Zeitlosen ist es kaum messbar. Speise ist oft nur Sekunden in unserem Mund. Mit dem Schlucken geht jeder Happen hinab, so wie wir als aus der Einheit Getrennte hinabgefahren sind und eine Bedeutung für das Ganze haben. Die Speise geht nicht um ihrer selbst willen durch den Körper. Sie belebt den Organismus, in den sie gekommen ist, und sie selbst erfährt dadurch eine Wandlung. Sie hat Leben gespendet, ohne Lohn dafür zu bekommen. Dazu ist die Nahrung da. Sie schmeckt, macht satt, belebt, doch am Ende schämt sich der durch sie Belebte für das, was aus ihr geworden ist. In gewandelter Form entledigt man sich ihrer alleine, wohingegen ihre Aufnahme oft in Gesellschaft stattgefunden hat. Was auf dem Weg gewandelt wurde und wofür es keine weitere Verwendung gibt, wird (normalerweise) beerdigt und damit zurückgegeben.
Die Verdauung steht auch für die Trennung von rein und unrein. Letzteres steigt nicht direkt auf, sondern noch tiefer hinab, und dient auf irdische Art und Weise als Nahrung für anderes, das aufkommen will. So erhält am Ende alles seinen Sinn, auch wenn es sich für uns ganz anders dargestellt hat.
Gib deinen Begegnungen Zeit, entlocke ihnen den Geschmack und sättige dich daran. Wirst du von dem, was du aufnimmst, nicht satt, dann setze dich an einen anderen Tisch.