Der barmherzige Samariter Teil 1 / 2

Im vierten der sieben Teile der Linzer Tagung von 2018 geht es um die Erzählung in Lukas 10, wo ein „Nomikos“ (Mann des Gesetzes) Jesus die Frage nach der Nächstenliebe stellt. Ich möchte an dieser Stelle noch ein paar Hinweise geben, die ich auf der Tagung nicht erzählt habe. Die erzählte Geschichte vom barmherzigen Samariter wird oft als Fundament für die christliche Nächstenliebe gesehen und verstanden, sodass sogar eine Hilfsorganisation den Samariter in ihrem Namen trägt (Arbeiter-Samariter-Bund). So ehrenwert das Handeln des Samariters auch ist – und daran zweifelt sicher niemand – so unverständlich ist die Reaktion des Priesters und des Leviten, die nach dem übersetzten Bibeltext sogar die Straßenseite wechseln. Das nur in dieser Erzählung vorkommende gr. Wort für die „gegenüberliegende Seite“ (ἀντιπαρέρχομαι (antiparerchomai)) bedeutet eigentlich noch etwas anderes, doch verändert es die wesentliche Aussage nicht, dass weder Priester noch Levit helfen. Der Grund liegt in der Zuständigkeit.
Bei der genannten Dreiheit liest Weinreb Körper, Geist und Seele. Außerhalb Jerusalems, des inneren Zentrums, sind weder die Seele noch der Geist zuständig, d.h. sie können auch gar nicht helfen. Ihr Tätigkeitsfeld liegt woanders. „Samariter“ ist ein vergriechischtes Wort, das weiter nichts mehr sagt. Zugrunde liegt das hebr. schomer, 300-40-200, das Hüten. Der Körper hütet den Menschen, kümmert sich um ihn, ja „spricht“ sogar mit ihm (Symptome). Doch nicht nur unser Körper sorgt sich um uns, sondern die ganze erscheinende Welt des Äußeren versorgt uns mit dem was wir benötigen.
Öl und Wein (für die Wunde) werden aus Pflanzen gewonnen, mit denen der Begriff Wachstum verbunden ist. Was ist bei uns in stiller Hingabe gewachsen? Und wissen Oliven und Trauben nicht auch von der Presse, von Verwundungen, von einem Zerquetscht-Werden? Gethsemane ist dem Namen nach die Ölpresse. Jekev, 10-100-2, ist im Hebräischen die Kelter und auch in dem Namen Jakob, 10-70-100-2, enthalten, der selbst ein Zwilling ist. So stellt uns auch der Wein vor die Alternative des Genusses der Freude und / oder des Rausches. Wein ist vom Weinstock, der in der Reihenfolge der Wachstumsarten (5. Mose 8, 8-9) an dritter Stelle steht, während die Olive an sechster Stelle ist. 3 zu 6 ist nichts anderes als 1 zu 2, die „Formel“ des Vaters, aw, 1-2. Doch wird zuerst das Öl genannt und dann der Wein. Das ergibt 2-1, gesprochen „ba“, welches „kommen“ bedeutet (daher auch Ab-ba = Vater + kommen). Der Sinn liegt in der Umkehr zum Ursprung, zum Vaterhaus. Diese Welt ist dazu da uns zurückzuführen. Ohne Wunden keine Versorgung, kein zur (inneren) Ruhe Kommen. Das Ende bleibt in der Erzählung vom Verwundeten offen. Wird er geheilt?
Wir können und dürfen wissen, dass alles was gemacht ist, uns zum Besten dienen muss. Gäbe es eine feste Methode bzw. eine erfolgversprechende Verhaltensformel wäre die Grundlage der Beziehung, Liebe und Barmherzigkeit, ausgeschlossen. Das Leben wäre sinnlos, wenn alles berechenbar wäre. Jesus sagt dem Nomikos dann (Lukas 10,37): „Gehe hin und tue desgleichen!“ Barmherzigkeit durchbricht das Gesetz von Ursache und Wirkung durch aktives Handeln entgegen dem aus der Wahrnehmung abgeleiteten Weltbild. Der Nächste ist im schriftlichen Hebräischen vollkommen identisch mit dem Wort böse. Beide schreiben sich resch-ajin, also 200-70. In der Summe ist das 270. Ist es nicht eigenartig, dass das oben erwähnte schomer (hüten) genau den doppelten Zahlenwert hat, nämlich 540 (300-40-200)? Auch hier das Verhältnis 1 zu 2! Es ist leicht erkennbar, dass es in dieser Geschichte um weitaus mehr geht, als um karitative Dienste an anderen Menschen. Die Erzählung vom barmherzigen Samariter beschreibt die Bedeutung dieser Welt für uns selbst. Wir verstehen die Welt nicht, damit auch nicht unser Leben. Anstatt zu erkennen, dass unsere Begegnungen und Erlebnisse nur für uns sind, quasi aus einer anderen Welt geschickt werden (Schicksal), regen wir uns lieber über alles Mögliche auf. Wie fremd sind wir modernen Menschen uns selbst geworden?

Friedrich Weinreb in seinem Buch „Leiblichkeit“:

Deshalb ist es wichtig, dass wir dem Körper vom Wort her Nachdruck geben und nicht zu schnell sagen: Der Körper ist doch sterblich, wir wollen uns lieber mit der Seele beschäftigen. Wozu hat dann Gott den Körper gemacht, ließ die Körperlichkeit, »gaschmiuth«, 3-300-40-10-6-400, hier erscheinen? Sogar der Messias erscheint körperlich. Wir sollten also immer diese Verbindung zwischen Körper und Leib suchen. Die Namen der Organe und nun auch der Glieder weisen schon auf diese Einheit, auf diese Gleichheit hin.

Die Bedeutung der materiellen Welt inkl. dem uns verliehenen Körper hat eine Tragweite, die irdisch nicht übersehbar ist. Als hier Lebende sind wir zugleich Auserwählte, die zum Höchsten berufen sind. Das Bild des Gefäßes aus den ersten beiden Vorträgen in Linz macht deutlich, dass Schöpfen nur möglich ist, wenn das Gefäß zur Seite und nach unten hin verschlossen ist. Nur nach oben ist es offen, und nur so kann geschöpft werden, nur in unserer Orientierung nach oben sind wir am Schöpfungsprozess beteiligt und Teil davon wovon Weinreb 1975 im “Traumleben” erzählt (auch zu finden im dritten Band der gleichnamigen Buchreihe):

Wir wissen aber, daß Gott in jedem Moment die Welt neu erschafft, daß die Momente der Zeit uns geschenkt sind zur Erneuerung. Jeden Moment kannst du von vorn anfangen. In jedem Moment kannst du mit etwas Schluss machen. Die Dauer, die Zeit, ist dir geschenkt, damit du wach sein kannst.

Die Schöpfung findet ständig statt. Die Wunden dienen ebenso wie die zerbrochenen Scherben des Gefäßes dazu, uns zu unserem Ziel zu bringen. Nichts geschieht ohne Grund.

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Autor: Dieter Miunske


Himmel und Erde – Ruhe und Bewegung bei uns selbst

Dritter Teil der Linzer Tagung vom 13. – 15.04.2018 mit dem Schwerpunkt „Himmel und Erde“, womit die Schöpfung beginnt. All das geschieht im Zeichen der Beth, des zweiten hebräischen Buchstabens. Himmel und Erde – die Ruhe gegenüber der Bewegung. Alles im Fluss der Zeit, weshalb es im NT mehrfach heißt, z.B. in Matth. 24,35:

Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen.

Das griechische Wort für „vergehen“ (παρέρχομαι / parerchomai) meint das Vorübergehen bzw. das Verfließen. Unser Zeiterleben besteht aus Kommen und Gehen.

Die Worte aus dem Ewigen stammen aus dem Zeitlosen, können demzufolge nicht vergehen. So wie der Messias nicht in der Zeit versinkt (er geht auf dem Wasser), so sind auch seine Worte nicht zeitlich einzuordnen. Genau deshalb haben die Worte aus dem Ewigen die Wirkung, dass sie das in der Zeit vermeintlich Feste erschüttern und das sich hier als „nicht greifbar“ Darstellende festigen. Fest kann nur sein, was unvergänglich ist. Von der Ruhe des Schabbath, des siebten Tages, an dem es nicht heißt w’jehi erew w’jehi boker jom … (und es war Abend und es war Morgen, Tag 1, 2, 3 usw.). Dieser siebte Tag wird aus diesem Grund als unsere Gegenwart gesehen, die zwischen Vergangenheit und Zukunft ruht. Der Eintritt in die Gegenwart ist eine enge Pforte, die auf einen schmalen Pfad führt, denn gar bald verlassen wir diesen, indem wir gedanklich in die Vergangenheit oder Zukunft abschweifen.
Ferner kommt das Ruhen der Pflanzen zur Sprache, die ihren Halt in der Finsternis haben. In der Systematik des altens Wissens stehen die Pflanzen zwischen dem Osten, der gelb gezeichnet wird, und dem Westen, dem Blauen. In der Mitte befindet sich das Ruhende, die Pflanzenwelt, die den wohlriechenden Duft verströmt. So heißt es, dass nur der Mensch, der diese Ruhe in sich gefunden hat, diesen Duft von sich gibt. Er weiß nicht nur von der Synthese zwischen Vergangenheit und Zukunft, sondern erlebt es als Realität bei sich selbst. Dieses Erleben aber spielt im Verborgenen und wird nicht zur Schau gestellt. Keusch ist die Liebe, heißt es, weil sie alleine vom Geheimnis der Einswerdung zwischen Ewigem und Zeitlichem weiß. Dieses Geheimnis ist die Grundlage der Beziehung.

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Autor: Dieter Miunske


Schöpfen, Brunnen – Der Name Gottes und die Gegenwart

Zweiter von sieben Vorträgen auf der Linzer Bibel-Tagung vom 13. – 15.04.2018. Beim Schöpfen zielt nach dem Durchleben der „2“ alles auf die „1“. So wird es im hebräischen Wort „bara“, 2-200-1, bereits deutlich sichtbar. Schöpfen ist Zwei-Machung. Aus dem Brunnen wird etwas herausgeholt, wird von der Quelle getrennt. „Bara“ hat als Gesamtwert die 203, ebenso wie „ger“, 3-200, der Fremdling. Denn fremd fühlen wir uns, wenn wir hier auf der Erde ankommen.

Als (Ge-)Schöpf(t)e empfinden wir einen starken Zug zurück zur Einheit, woraus alles stammt. Im Nicht-Finden werden wir er-schöpft, müde, ja sogar lebensmüde. Begeben uns in Lebensgefahr, weil wir suchen. Verfallen in Süchte, die nicht auf bewusstseinsverändernde Substanzen beschränkt sind, sondern x-beliebige Formen annehmen können: Karriere, Ruhm, Ehre, Extremismus, Sekten aller Art; stets drückt sich darin ein Sich-verloren-Fühlen aus. „Wer suchet der findet“, heißt es im Mittelteil des Dreiklanges von Bitten, Suchen und Anklopfen. Zunächst steht also das „zur Sprache bringen“ (bitten). Es muss ein von innen nach außen gebrachtes persönliches Anliegen sein wie es auch in Lukas 15,17 beim „verlorenen Sohn“ heißt: „Als er aber zu sich selbst kam, sprach er: (…)“. Ins Wort bringen was unser Anliegen ist, befreit, verschafft Klarheit darüber wessen man verlustig gegangen ist. Es ist zu finden! Es ist da! Ja, es war niemals wirklich weg. Durch das Er-Innern wird das Innere wach. Was wach wird, wird lebendig, steht auf, geht. Geht zurück zur „1“, erkennt, dass Anfang und Ende eins sind.

Um der Hauptsache willen ist um der Liebe willen. Liebe ist das Leben, welches die Einswerdung sucht. Dazu die Zwei, um der Liebe willen die Zwei.

Weinreb, Legende von den beiden Bäumen

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Autor: Dieter Miunske


“Du bist die ganze Welt” – Der Mensch und die Schöpfung

Erster von sieben Vorträgen auf der Linzer Bibel-Tagung vom 13. – 15.04.2018. Beim „Alten Wissen“ geht es nicht um ein abstraktes Wissen per se, sondern stets um die persönliche Beziehung zum Wort. Immer wieder wird gesagt „Du bist die ganze Welt“. Jeder Mensch ist so wichtig wie die ganze Menschheit. Diesen Wert haben wir alle.
So wird auch die Bibel nicht als Moral- oder Ethikleitfaden verstanden, sondern als Blaupause der Welt. „„Gott schaut in die Thora und macht nach ihr die Welt““, heißt es. Die Bibel zeigt „So ist die Welt – SO BIST DU.“ Keine Silbe von einem „Du sollst“ wie es die materielle Leistungs-Theologie als Dogma lehrt. Erinnere Dich, wessen Kind Du bist und woher Du kommst. Das bringt Dich auf den Weg.

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Autor: Dieter Miunske


Höher als der Himmel

Unser Tun offenbart wes Geistes Kinder wir sind. Die Königswürde Jesu zeigt sich in dieser Welt gemäß Matth. 25,31 ff verkleidet als Hungriger, Durstiger, Fremder, Nackter, Kranker und Gefangener ( 6 ägyptische Parameter ). Unsere Natur empfindet bei der Begegnung mit derlei Personen bzw. Eigenschaften Unbehagen und manchmal sogar eine gewisse Scheu; man könnte auch sagen Skepsis. Das Wort Skepsis stammt aus dem Griechischen, wo es in Verbindung mit dem Adverb epi zum Begriff besuchen wird (episkeptomai). So wird es auch in Matth. 25 (oben) in Verbindung mit dem Besuch von Kranken und Gefangenen gebraucht. Wörtlich kann man dieses Wort auch mit hinschauen und darauf sehen übersetzen. Der episkopos ist der Aufseher, der für etwas verantwortlich ist. Auch er gehört dieser Sprachfamilie an. Wofür sind wir verantwortlich? Das alte Wissen sagt: Für deine Neschamah, deine göttliche Seele bist du verantwortlich. Und nur für sie. Das meint: Die Neschamah in uns ist im Exil. Sie leidet wie oben beschrieben. Wir begegnen ihr im “Nicht-Mehr-Wegsehen” von den Menschen und den Zuständen, die damit verbunden sind. Begegnung hier ist Begegnung dort, heißt es. Schauen wir hin, nicht weg! So sagt Jesus schließlich (Matth. 25,40):

Wahrlich, ich sage euch, insofern ihr es einem der geringsten dieser meiner Brüder getan habt, habt ihr es mir getan.

David Gilmour dichtet in seinem Lied “No more turning away” (Auszug):

No more turning away
From the weak and the weary
No more turning away
From the coldness inside

Just a world that we all must share
It’s not enough just to stand and stare
Is it only a dream that there’ll be
No more turning away?

Eine alte jüdische Geschichte greift das Thema ebenfalls auf:

Eine jüdische Gemeinde machte sich große Sorgen um ihren Rabbi. Der alte Meister verschwand seit einiger Zeit immer genau zu Beginn des Sabbats aus der Synagoge. Die einen befürchteten, er hätte seine Pflichten vergessen, die anderen waren besorgt, ob er nicht die mizwot (Gebote) brach. Wieder andere erinnerten die übrigen Gemeindemitglieder daran, wie bekannt der Rabbi für seine Heiligkeit war und dass er wahrscheinlich regelmäßig verschwand, um in den Himmel aufzusteigen. Vielleicht traf er dort sogar den heiligen Elija persönlich und bat darum, von den Gebrechen seines Alters verschont zu bleiben. Um letzte Gewissheit zu bekommen, beschlossen die Gemeindemitglieder eine Tages, einen Spion einzusetzen. Dieser sollte dem alten Rabbi folgen und herausfinden, wohin er jeden Sabbatabend ging.
Der Tag kam, und kaum waren die Sabbatkerzen gelöscht worden, verließ der Alte die Synagoge. Er schlich sich die Straße hinunter, durchquerte auf einem steinigen Weg den Wald und stieg dann mühsam einen Berg hinauf in Richtung einer kleinen Hütte. Der Spion, der ihm unbemerkt folgte, sah den Rabbi kurz anklopfen, um dann im Inneren zu verschwinden. Der Spion näherte sich der Hütte und erkannte im schwachen Licht eines fast niedergebrannten Feuers den Umriss des Rabbis durch das Fenster. Er drückte sich in der Dunkelheit an die Hauswand, schob sich langsam unter das Fenster und blickte dann vorsichtig ins Innere der Hütte. Was er sah, hätte er sich in den kühnsten Träumen nicht vorstellen können:
Auf einem Strohsack am Boden lag eine Frau, die ganz offensichtlich nicht zur Gemeinde gehörte. Sie war sehr dünn, ihr Gesicht war fahl, und das Atmen schien ihr schwerzufallen. Als Erstes fegte der Rabbi den Fußboden des Raums. Dann holte er Holz und entfachte das Feuer wieder. Anschließend holte er frisches Wasser vom Brunnen hinter dem Haus. Und letztlich kochte er der Frau einen großen Kessel Suppe und stellte ihn neben ihr Bett. Das genügte dem Spion. Er rannte den Berg hinunter, durch den kleinen Wald, zurück in den Ort, wo die Gemeindemitglieder bereits gespannt auf ihn warteten.
»Was hast du gesehen? Ist unser Rabbi tatsächlich in den Himmel gegangen?«, fragte man ihn. In manchen Stimmen schwang dabei Hoffnung mit, in anderen hörte man Verachtung. Der Spion zögerte kurz mit seiner Antwort, dann sagte er:
»Euer Rabbi ist nicht in den Himmel gegangen. Er ist um einiges höher gestiegen.«

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Autor: Dieter Miunske