Der Liebende findet sein Gegenüber

Friedrich Weinreb in Biblische Porträts

So sind die Geschichten der Bibel für mich nicht Geschichten, »wie es in früheren Zeiten einmal war«. Damit leugneten wir den Samen des Ewigen im Leben. Die Bibel erzählt davon, wie Gott die Welt und ihre Entwicklung sieht. Deshalb spricht man vom »Heiligen Geist«, der die Worte der Bibel in die Welt bringt. Es gibt auch »böse Geister«. Von ihnen gehen andere Erzählungen aus. Wie man das unterscheidet? Ich glaube, wenn man etwas von Liebe, von der Liebe um des anderen willen spürt, dann unterscheidet man auch.
Eine Formel, eine Technik, wodurch man es feststellen könnte, schaltete die Liebe aus. Der Liebende findet sein Gegenüber, indem er liebt. Das ist das Geheimnis der Liebe. Davon aber redet man nicht, denn ein Geheimnis lebt nur, wenn es keusch bewahrt bleibt. Die Bibel als Heiliges kann man deshalb nur in seiner eigenen Intimität erkennen. »In deinem Herzen, in deinem Munde.« Nicht in räumlicher Distanz, nicht »jenseits der Meere«, nicht in einem abstrakten, kalten Begriff: »Wer wird in den Himmel steigen?« Die den Turm zu Babel bauten, wollten in den Himmel steigen. Ich suche nach dem Heiligen nicht in der Weltgeschichte oder in nationalen Geschichten. Dort stößt man am Ende doch immer nur auf Affen oder andere Primitive. Ich frage mich vielmehr, wo die Mythen, die Sagen, die Legenden herkommen.
Ich glaube, dass der Mensch von Gott kommt. Seien wir also wieder Kinder Gottes.


Trenne das Heilige vom Profanen

Friedrich Weinreb in Das Wunder vom Ende der Kriege

Die Schöpfung ist ein fortwährender Unterscheidungsprozess. Himmel und Erde, Ewigkeit und Zeit. Der Mensch mag das Heilige schon, aber zu seinen Diensten. Das heißt, er braucht es, um sein Leben in der Zeit, das er als das eigentliche Leben sieht, lebbar zu machen. Zum Beispiel: Er braucht die Bibel, um moralischen Zwang auszuüben, er braucht Gott, um via ihn zu erklären, dass es den Guten gut und den Bösen schlecht gehe. Er benutzt das Heilige für das Profane, für die Masse, für kausale Erklärungen, für Politik, für Gesellschaft. Tatsächlich, er benutzt das Heilige als Opium. Der brave, fromme Bürger, der im stillen in die Hosen macht, weil man vielleicht sein Versagen bekannt machen wird.
Den Hebräer, Israel, ziehen lassen, ist lebensnotwendig für mizrajim, für Ägypten. Trenne das Heilige vom Profanen. Und das eben mag der Pharao nicht. Er kennt nur diese Welt, erklärt alles mit den Maßstäben dieser Welt. Es gibt nichts anderes. Auch die Bibel kann nur mit den Maßstäben dieser Welt gelesen werden. Also geschichtlich, politisch, kirchlich (im Organisations-Sinn), gesellschaftlich, moralisch. Heute würde man sagen: entmythologisiert. Also praktisch, nützlich. Der Mensch spürt schon, dass etwas in diesem Sinne ihn bedrängt. Die Ägypter flehen den Pharao schon an, Israel ziehen zu lassen, weil sie spüren, dass Ägypten sonst untergeht. Das heißt, der Körper schreit schon, protestiert schon, dass sein Lenker, sein Körper-König, eben Pharao (phar, Stier, irdische Erscheinung, in seiner Potenzquelle jenseits), ihn ins Verderben führt. Von dorther kommen die »Plagen«, kommt das logisch nicht erklärbare Pech, der Zufall, kommen die Revolutionen, die Konflikte, die Aggressionen. Von dorther kommt sein Leid, sein Kranksein. Und dann kommt, durch die Ergebung ins Leid, die Beziehung zu Gott, über Mose. Mose, das Wort, das ewige Wort, das aus dem Wasser, aus der Zeit hervorgezogene, weil ewige Wort. Und so kommt dem Menschen Berührung mit dem Ewigen. Und das Leid wird von ihm genommen. Er atmet wieder frei. Der Druck auf sein Herz ist fort.
Aber in der Freiheit, nach der Befreiung vom Druck, von der Besetzung, weiß er nicht, dass es seine Art, das Heilige nicht als Heiliges zu verstehen, es zu benutzen für das Leben hier, ist, welche ihn wieder in die Spirale der Plagen hinunterzieht. Er fährt fort, oder er fängt wieder an, es zu knechten, zu quälen, es nach Maßstäben des Hiesigen, des Profanen zu beurteilen. Er versteht nicht, dass deshalb die Qualen sich fortsetzen werden, fortsetzen müssen. Weil es der Sinn des Lebens ist, das Heilige zu erkennen als heilig, als jenseitig. Und damit sein Leben zu sehen als ewig, auch wenn er nicht versteht, wie so etwas irdisch aussehen könnte. Dann könnte er es in Liebe, in Glaube, in Hoffnung, in Vertrauen schon dem Gegenüber überlassen. Schön das Vertrauen, etwas dem Gegenüber zu überlassen. Man findet dann, durch die Liebe, dass dieses Gegenüber auch in uns, in jedem von uns lebt. In seinem Mund, in seinem Herzen. Das heißt: Was du sprichst, ist sein Sprechen. Nicht du, er. Und nicht nur er, sondern auch du. Ich bin, der ich bin. Ich bestimme selber mein Leben, weil ich diesseitig bin und jenseitig. Weil ich im Profanen, im chol, Sand der Vielheit, lebe, und auch im Heiligen, im Ewigen. Deshalb bin ich, der ich bin. Deshalb werde ich sein, was ich sein werde.


Innenwelt-Verschmutzung

Friedrich Weinreb in Traumleben II

Ein Weltbild, das auf Lohn und Strafe baut, bringt für den, der daran glaubt, dasselbe Risiko mit sich wie die Investition in ein Handelsgeschäft: Es kann trotz aller Planung schlecht ausgehen. Man investiert, gleichzeitig aber fürchtet man, falsch investiert zu haben. Immer droht das schreckliche Wort: Fehlinvestition! Den im Kausalen Gefangenen quält die Frage: >Warum hat man uns nicht ein Buch gegeben, worin genau steht, was man tun soll?< Immer sucht er sozusagen dieses Gesetzbuch. Die Bibel erweist sich als untauglich; »Auge um Auge« — »wer den Sabbat entweiht, wird getötet«: Wie soll man das in die Praxis umsetzen? Wo fängt das Entweihen an?
— Wer die Bibel kausal anwenden will, gerät sofort in die verrücktesten Widersprüche. In der Enge des kausalen Weltbildes verhält man sich dem Himmel gegenüber, wie man sich vor einer strengen Prüfungskommission verhält: angstvoll und in Unsicherheit, vielleicht doch der falschen Gruppe oder Religion anzugehören. Man glaubt an eine Macht, die sozusagen rechnet und Buchhaltung führt, und weiß nie genau, ob das, was man einzahlt, dort dasselbe wert ist wie hier; hier kennt man die Währung, aber dort … ? Durch Jahrhunderte, ja, vielleicht Jahrtausende hat sich dieses Weltbild immer starker herauskristallisiert und jenes von der Überraschung, der »guten Nachricht« fast völlig verdrängt. Vielleicht nähern wir uns gegenwärtig dem Höhepunkt, oder haben ihn schon überschritten. Die Berechnungen stimmen, es zeigen sich große, berauschende Erfolge, die Entwicklung geht immer weiter. Da allerdings im kausalen Bereich alles Überraschende stört, muß vieles, das nicht in den Plan paßt, ausgeschaltet werden. Der Mensch ist möglichst so auszubilden, daß er dem Plan gemäß lebt. Damit wird schon im Kindergarten begonnen, der jetzt ja auch »Vorschule« heißt. Das Kind soll doch einmal mitzählen! Die Masse zählt, die Produktion, die Leistung. Der Mensch wird so erzogen, daß man dann sagen kann: >Der leistet etwas!<
Immer deutlicher aber zeigen sich in der Gegenwart auch Bestätigungen für die These, die vor einigen Jahrzehnten der Holländer Max Dendermonde treffend als Titel seines Buches formuliert hat: »Die Welt geht am Fleiß zugrunde«. Die Begleiterscheinungen der Leistungsbesessenheit treten immer drastischer zutage. Der Umweltverschmutzung entspricht eine Art Innenwelt-Verschmutzung des Menschen. Ein Heer von Spezialisten bemüht sich um die »Entgiftung« der natürlichen wie der menschlichen Natur. In Indonesien, einem sogenannten Entwicklungsland, habe ich es während meiner Lehrtätigkeit erlebt, daß sich die Studenten für ihr Volk schämten, weil es noch so »unentwickelt« war.  Man spürte, daß die breite Masse des Volkes eigentlich in Ruhe gelassen zu werden wünschte und zu fragen schien: >Warum neue Straßen, wozu mehr leisten, wozu den Export erhöhen?< Den Studenten war das peinlich: >Tut uns leid<, sagten sie, >aber die werden das schon noch lernen.<
Entwicklungspläne sind eine ernste Sache, da gibt es nichts zu lachen. Die Diktatur der Leistung läßt Humor nicht zu. Das Lachen aber, die Freude des Lachens ist doch das Befreiende. — Wie kann Abraham die Verheißung eines Sohnes ernst nehmen, der nach aller Berechnung unmöglich kommen kann? Heute würde man sagen: naturwissenschaftlich unmöglich. Gott aber sagt: Der Sohn kommt doch. Es bedeutet: Deine Zukunft bleibt, deine vergangenen Momente gehen nicht verloren, dein Sohn wird sein wie du — die Verheißung also einer Identität. Und der Sohn heißt Jizchak (Isaak), ein Name, der vom Wort »lachen« kommt, und soviel bedeutet wie: >Es ist zum Lachen, ist viel zu schön, um wahr zu sein.< die andere Dimension bricht durch.


Erlösung aus Angst und Zwang

Friedrich Weinreb in Vom Sinn des Erkrankens

Die sechs Tage der Schöpfung finden ihren Abschluss, aber auch, wie es heißt, ihre Krönung im siebenten Tage, dem Tage der Ruhe, der Stille, des nicht lärmenden Betriebes. Am siebten Tage, und er heißt deshalb der heilige Tag, ist der Weg zu Ende, die Be-WEG-ung ist Ruhe geworden. Dann wirkt eben die Wirklichkeit der Stille, des Verborgenen, des Unermesslichen.
So gibt es den Weg, die Bewegung, die Bewegung der sechs Tage, den Gang der Entwicklung, und es gibt das Ziel, das Zuhause, die Ruhe, das Vollkommene des siebten Tages. Diese sechs Tage und dieser siebte Tag finden ihre Entsprechung in den beiden Wirklichkeiten des Menschen. Die sechs Tage sind die Wirklichkeit des Erscheinenden, des sich Entwickelnden, des Tuenden und der siebte Tag ist die Wirklichkeit des Verborgenen, des Stillen. Von dort geht die Kraft hinüber zum Wege, zum Erscheinenden. Von dort geht der Geist mit seiner Botschaft zum Menschen in seiner Beschäftigung im Alltag. Von dort baut es sich im Alltag, von dort schreibt und spricht es sich im Alltag, von dort tut es sich im Alltag. Deshalb richtet sich die Woche der sechs Tage ganz auf diesen siebten Tag. Dieses “Sich-richten-auf” bedeutet ein Verbinden. Es ist die Sehnsucht der sechs Tage nach dem siebten. Es ist das Verlangen des Menschen nach dem Besonderen, nach dem Heiligen. Dann erhalten die sechs Tage einen Sinn. Dann hat die Entwicklung ein Ziel in einem Gegenüber.
Der siebte Tag wird in der Mystik dann auch gesehen als die Braut, die Schöne, die Wunderbare, worauf man gewartet hatte, die man erhofft hatte. Dort, am Anfang des siebten Tages, wird diese Braut voller Freude empfangen. Man vereinigt sich mit ihr. Es ist diese mystische Vereinigung der beiden Wirklichkeiten, der geheimen und der offenbaren, sich auch ausdrückend in der Entsprechung im Männlichen und Weiblichen. So ist es die Vereinigung der sechs Tage mit dem Tag der Ruhe, die Vereinigung des Unterwegsseins mit dem Zuhausesein. Es ist die Vereinigung des Suchenden mit dem der sich gefunden hat, des Kausalen mit dem Akausalen, des Gesetzmäßigen mit dem Freien. Diese Vereinigung ist die Erlösung aus Angst und aus Zwang.


Die Welt als Mahlzeit

Friedrich Weinreb in Die Rolle Esther

Der Vorbeizug des Lebens ist nur eine andere Erscheinungsform der durch den Körper passierenden Mahlzeit. In jedem dieser Fälle wird eine Auslese getroffen, eine Wahl. Für den Körper besorgen dies die Naturgesetze. Für das Leben besorgt es die Neschamah. Wenn aber die Wahl der Neschamah behindert wird und im Leben auch die Gesetze der Entwicklung regieren und das Böse gewählt wird, die Weiterentwicklung fort vom Ursprunge, dann entsteht eine Spannung, ein Zwiespalt im Menschen.
Nach außen hin wirkt sich dies oft als Krankheit oder auch als Unlust aus. Der gedeckte Tisch ist dem Leben gleich. Wer bei der Mahlzeit Gast ist, ist auch beim Leben zu Gast. Man lebt in dieser Welt, um sie aufzunehmen, seien es nun Geschehnisse oder Speisen. Sie hängen zusammen. Die Handlung des Essens aber ist ein Geheimnis. Darum heißt die Mahlzeit auch wohl «seudah», ein Wort, das in seinem Aufbau und Klang eine Verwandtschaft zeigt mit «sod», dem Worte für Geheimnis.