Einmaliger Zugang zum Wort

Friedrich Weinreb in der Einleitung zu seinem Hauptwerk Schöpfung im Wort

Das Bedürfnis, sich zu betäuben, sich zu zerstreuen, das Bedürfnis nach Spielen – was immer, in welcher Art es sich auch äußert, auf ein Ausschließen der Realität hinausläuft, auf die Schaffung einer Scheinwelt – sind die äußerlichen Merkmale des Aufgebens der Hoffnung, den Weg des religiösen Menschen wiederzufinden. Auch das Sich-Klammern an jede exotische, das wahre Menschliche vernebelnde »geistige« Strömung, wenn sie nur den Eindruck erweckt, mit der Vermittlung von Glauben und Vertrauen zu tun zu haben, mit Welten jenseits der sinnlichen Wahrnehmung, wenn sie nur vorgibt, umfassend zu sein und aus anderen Sphären zu kommen, ist ein Anzeichen für menschliche Bedürfnisse und menschliches Suchen; vor allem aber ist es auch ein Hinweis auf beängstigende menschliche Einsamkeit und tiefes menschliches Leid.
Diese Zeit des tragischen Pessimismus verlangt nach der Wiederherstellung von Gewissheiten, um die herum es wieder sinnvoll ist, ein neues Leben und eine andere Welt aufzubauen. Aus diesem Grunde war ich der Meinung, es sei nicht nur gerechtfertigt, sondern sogar notwendig, einen Zipfel des Schleiers zu lüften und so auf die Existenz dieser unbekannten Welt hinzuweisen, die seit Anbeginn der Menschheit die Gewissheiten des Lebens enthält. Mehr als das kann ich gar nicht tun in einem Buch, welches das erste und einzige zu diesem Thema überhaupt ist und das angesichts des völlig Neuen und Unbekannten des Themas über einen vorsichtigen und allgemein einführenden Charakter nicht hinausgehen kann. Es enthält noch nicht einmal den hundertsten Teil dessen, was ich mit Hilfe des in meinem Besitz befindlichen Materials schreiben könnte. Doch bereits dieser kurze und flüchtige Einblick in diese neu zu entdeckende Welt ist so faszinierend, eröffnet solche Perspektiven, dass man sich fragt, wie es möglich ist, dass dies alles tatsächlich existiert und in solcher Nähe von uns vorhanden sein konnte, ohne dass wir auch nur eine Ahnung davon hatten.


Welt und Ewigkeit

Friedrich Weinreb in Wege ins Wort

Im Hebräischen ist Ewigkeit »olam«, das gleiche Wort, wie das Wort für Welt, wie das Wort für eine Gemeinschaft. Ist Welt also identisch mit Ewigkeit, dann ist das Leben in der Welt ewig. Zeit erlebt das Leben an der einen Seite der Dualität, Ewigkeit an der anderen Seite. Ehe zwischen Zeit und Ewigkeit bringt die Frucht des sich immer neu zum Leben erweckt Empfindens. Dieses Erwecktsein, dieses Wachsein gibt dem Leben den Reiz des Ewigen. Tod ist uns dann fern.
Nicht nur fern in der Zeit, sondern vor allem auch fern der Ganzheit unseres Lebens. So empfindet man sich wie träumend; das Leben vom Jenseits läßt uns unglaublich staunen: ist das alles tatsächlich wahr? Die Worte sagen es, man könnte es glauben. Man hat aber die Freiheit, es auch nicht zu glauben. Das macht das Leben und den Tod noch gewaltiger. Ist es in unserer Hand, zu glauben oder nicht zu glauben? Sind Leben und Tod auch in unserer Hand? Wer weiß. Wenn man es wüßte, wäre der Sinn vom Leben verloren. Es ist ein ewiges Erlebnis, diese Begegnung mit der Dualität des Lebens. Ewig und jetzt gegenwärtig. Das Jetzt birgt doch die Ewigkeit, und die Ewigkeit birgt das Jetzt. Und die Berge tanzen vor Freude, das Verborgene spielt und singt.


Lieder des Lebens

Friedrich Weinreb in Wunder der Zeichen Wunder der Sprache

Die Melodie erzeugt den Zusammenhang zwischen den Zeichen und den Worten, den Versen oder Sätzen und sogar den Abschnitten. Über diesen Gesamtheiten, in denen ja der Sinn zutage tritt, kann sehr wohl geurteilt werden. Gehen sie von der Schlange aus, oder spricht in ihnen der Adam Kadmon? Denn mit der Melodie kommt man in den Bereich, wo es sich entscheidet. Über den Menschen als Zeichen kann nicht geurteilt werden. Er ist sowohl ein Zeichen als auch eine Verbindung von Zeichen zu einem Wort, ja auch eine Verbindung von Worten zum Ganzen eines Verses. Aber als solcher kann er dennoch in seinem Leben viele Melodien anstimmen, er kann sich zu verschiedenen «Völkern» hingezogen fühlen, mit ihnen Gemeinsames empfinden, Zusammengehörigkeit erleben oder sich auch abgestoßen fühlen.
Das alles bildet das Menschenleben. Darum kann man auch sagen, dass die gesamte Thora das Leben jedes einzelnen Menschen ist. Denn es ist sehr reich und umfassend und hat großen Wandel an Empfindungen und Stimmungen. So erfährt der Mensch sehr stark die Leitung von «jener Seite». Doch diese andere Seite wird mitgeformt durch die Melodie, die der Mensch in seinem Leben singt. Je nach dieser Melodie ist er empfänglich für Aufmärsche oder Massengesang im kirchlichen Sinn, für religiöse Abkapselung oder Fanatismus, für allerlei Heilslehren. Er ist auf jeden Fall verantwortlich, denn die Ansprechbarkeit für irgend eine Suggestion ist abhängig von der Melodie, die er seinen Zeichen und Vokallauten gibt. Dort spricht sich des Menschen Verlangen aus, die Art und Weise, wie und was er sucht, wo er sich den Eindrücken öffnet. Für den Menschen ist die Art seines Singens entscheidend.
Man kann einwenden, dass dies doch weitgehend vorgegeben sei durch seine Umgebung, seine Herkunft, seine Eltern und Erzieher. Gewiss, das wäre ein Ausgangspunkt. Man sagt aber auch, dass die Melodie des Menschen im Zeiträumlichen schon mitbestimmt, wo und wann er geboren wird in diesem Zeiträumlichen. Denn die Melodie ist jenseitig, und das Jenseitige ist immerwährend. So bestimmt der Mensch mit Gott im Himmel Ort und Zeit seines Daseins auf Erden. Und gerade auf diesem Platz ist für ihn alles möglich.


Sicherheit auf Kosten der Kinder

Friedrich Weinreb in Das Opfer in der Bibel

Hier auf der Erde vollzieht sich das Äußerste dieser Zweiheit, das Äußerste des Schreckens. Schlimmer als auf dieser Erde, heißt es, geht es nicht. So weit, wie man hier von allem getrennt ist, ist man nirgends sonst getrennt. Aber das Entsetzen, das man erlebt, weil man sieht, wie dieses äußerst Mögliche aussieht, hat seinen guten Sinn. Der Sinn des Ganzen ist die Rückkehr aus diesem Äußersten. Man soll dabei den Schrecken des Alleräußersten mit sich nehmen, wodurch alles in äußerste Freude und Glückseligkeit umschlägt. Deshalb geht die Verbannung so weit wie nur möglich, deshalb werden von dieser Verbannung besonders viele Einzelheiten erzählt.
Die Mauern der Vorratsstädte in Ägypten, heißt es zum Beispiel, können nur errichtet werden, wenn kleine Kinder mit eingemauert werden. Was ist eine Vorratsstadt in Ägypten? Die Sorge um die Zukunft, auch die Furcht, dass man in der Zukunft nichts mehr zum Leben haben könnte, dass es keine Nahrung mehr geben könnte. Die Angst der Welt Ägyptens vor der Zukunft wird also im Bild des Bauens von Vorratsstädten dargestellt. Im Midrasch über das Buch Esther, die Geschichte der Verbannung, das auch mit dem Wort »waj’hi« beginnt, wird die Frage, was Verbannung ist, so beantwortet: Wenn der Mensch sich fragt, wovon er das nächste Jahr leben soll. Das ist wieder dasselbe wie das Schließen des Kreises. Der Mensch denkt, wenn er nicht selbst vorsorgt, geht alles schief. Deine Vorratsstädte können nur existieren, wenn du deine Kinder mit einmauerst. Du tötest dein Kind in dir. Es ist dieselbe Art Brutalität, wie wenn du das Ebenbild Gottes dafür benutzt, deine eigene Welt zu erbauen. Das ruft das Entsetzen der »sch’china« hervor, denn sie leidet immer dann, wenn ein Kind für so etwas verwendet wird; wenn du ein Kind das Rechnen und Berechnen lehrst, damit es später einmal mit einer guten Stellung im Leben seine Zukunft sichern kann. Ein Kind, das all dies lernen muss, wird darin eingemauert, und das ist das Entsetzliche für die »sch’china«.
Wenn du, heißt es, mitansehen musst, wie ein Mensch geschlagen und gefoltert wird, und du dabei schrecklich leidest, dann erst verstehst du, was die »sch’china« mitmachen muss, wenn man einem Kind, einem Menschen keine Zeit gibt, die Thora zu lernen. Wenn man für den Menschen Freizeiteinrichtungen zum Entspannen schafft, nur damit er dann umso besser arbeiten und umso mehr produzieren kann, wird ihm eigentlich sein Menschsein genommen. Das ist wie das Erschlagen der Kinder in Ägypten. Es ist fast nicht zu begreifen, wenn man liest, dass die Aufseher in Ägypten ebenfalls Kinder Israels waren, über denen noch die Ägypter standen. Aber die Schläge teilten diese Aufseher aus, Menschen vom selben Stamm wie die, die geschlagen wurden. So tief, heißt es, ist die Verbannung, dass jeden Augenblick das blanke Entsetzen der »sch’china« herrscht. Nun ist gerade das Kommen in diese Welt, in dieses äußerste Extrem hier, ein Ausdruck der Vorbereitung auf die Erlösung. Denn dass man in dieses äußerste Extrem kommt und dies alles mitmacht – all diese Leidensstationen sind der Weg der »sch’china«, die in die Verbannung mitgeht. Und der Mensch macht dasselbe mit: Er ist abgeschnitten und weiß nicht, ob er wirklich zu der anderen Welt dort gehört.


Tiefste Verzweiflung am Ende der Nacht

Friedrich Weinreb in Traumleben IV

Die Bibel lässt Abend und Nacht vorangehen, weil vielleicht dort vieles Wesentliche geschieht. Die dunkle Nacht verbirgt den Sinn, lässt alles vage und ungewiss erscheinen. Vielleicht geht es in der Schöpfung nicht um klares Wissen, sondern um eine Beziehung des Menschen zum Unbekannten, eine Hingabe ohne die Sicherheit eines Erfolges, ein Hinnehmen ohne Erkenntnis eines Sinnes des Getragenen.
Vielleicht ist der Sinn der Schöpfung das, was man so schwer verständlich als Liebe umschreibt: das Schenken, das Verzeihen, die Güte, die Überraschung, die gute Botschaft. Das kann nur im Dunkel des Nichtwissens geschehen. Die klare Erkenntnis von Gut und Böse ließ das Paradies verlorengehen. Sofort und gern greift der Mensch nach der Frucht des Baums der Erkenntnis. Deshalb vielleicht der Abend und die Nacht als Anfang. Das verlorene Paradies im Rücken. Man kann ins Paradies zurückkehren, wenn man die Freude der absichtslosen Liebe schenkt: in der Hingabe und im Hinnehmen. Dazu die Nacht, dazu das Traumleben. Sogar das Hinnehmen des Todes ist dann wie die Hinnahme des Ungewissen, des Ungewissen bis zum letzten Tropfen ausgekostet. Das Ende der Nacht bringt die tiefste Verzweiflung. Man glaubt kaum mehr an einen Sinn. Ist der Mensch deshalb so stark diesem Leben verbunden? Er spürt hier seine Größe. Die Toten können Gott nicht loben. Sie wissen, sie sehen die andere Seite. Nur die Lebenden schlafen, leben in Traumwelten. Die Zeit fließt, sie lässt nichts sein. Und dann an Ewigkeit glauben, dann an ein Sein glauben — wie großartig!