Prophetie übermannt den Verstand

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Wenn Abraham auf dem Weg ist, den aufzugeben, den er liebt (seinen Sohn), spricht er etwas aus, das er nicht wissen konnte, etwas, das sogar entgegen jeder Logik war. 

Wir werden zu euch zurückkehren“, sagt er den beiden Begleitern, als er den Berg im Lande Morijah sah (Gen. 22:4), obwohl der Sinn des Aufsteigens die Hingabe seines Sohnes war, was aus menschlicher Sicht einem Totalverlust seines Lebensinhaltes gleichkommt, spricht er in Bezug auf die Rückkehr von „wir“. Hinzu kommt, dass er sehr genau wusste, dass der Verlust des Sohnes durch ihn selbst zustande kommen würde. Sein Verstand hätte sofort einschreiten müssen, denn das „wir“ impliziert doch, dass er den Auftrag nicht vollumfänglich auszuführen gedachte. 

Voreilig könnte man zu dem Schluss kommen, dass sein Handeln nicht seinen Worten entsprach. „Ja, Moment, ist das nicht Heuchelei?

Die Region, wohin Abraham mit seinem Sohn geht, wird „Land Morijah“ genannt. MORIJAH hängt direkt mit dem Wort THORA zusammen, und beide stehen im Kontext der Herkunft des Menschen. Es wird gesagt, dass sobald sich ein Mensch ernsthaft und bestimmt auf den Weg macht, eigentlich auf den Weg zu sich selbst bzw. zu seiner wirklichen Herkunft, (denn in Gen. 22:2 wird dasselbe LECH LECHÁ verwendet wie in Gen. 12:1) gelangt er „nach 3 Tagen“ an eine Stelle, von welcher er den Ort sieht, der das Ende seines gemeinsamen Weges mit seinem Sohn bedeuten sollte. Wie erkennt er den Ort, wie erlangte er Gewissheit über das tatsächliche Ziel? Eine Wolke senkt sich dort nieder (Genesis Rabbah 56:1). Etwas, das die Sicht behindert, ist ein Zeichen für das richtige Ziel. Abraham sieht den Ort „aus der Ferne“ heißt es. Manches kann man in seiner vollen Größe nur dann sehen, wenn man eine gewisse Entfernung dazu hat, was insbesondere bei Wolken schnell der Fall ist. Das hebr. RACHOK für die Ferne bedeutet gleicherweise „lange zuvor“, so wie wir über die Vergangenheit manchmal sagen: Das ist aber schon lange her, das ist bereits so weit weg, und wirklich detailliert kann ich da nichts erkennen, denn der Blick dringt nicht ganz durch, wie bei einer Wolke eben. 

Wenn die Sicht in die Ferne besser ist, als in die Nähe, spricht man von einer Fern- oder Weitsichtigkeit, die sich auch im Alter bei einigen Menschen einstellt. Die Ferne bekommt jetzt ein höheres Gewicht.

Am 3. Tag erhält Abraham diese Perspektive. Sein Leiden soll an diesem 3. Tag beendet werden, was er allerdings nicht zuvor gesagt bekommt. Auch Isaak sieht den Ort, doch auf die Frage Abrahams an seine beiden Begleiter, ob sie etwas Außergewöhnliches sehen würden, antworten diese: „Nein, nichts, nur trockenes Land wohin man schaut.“ Daraufhin bemerkt Abraham, dass deren Sicht sich nicht von der Sicht eines Esels unterscheidet, und deshalb sollten sie mitsamt dem Lasttier an dem Ort verbleiben, wo sich die unterschiedlichen Sichtweisen offenbart haben und nicht weiter mitkommen. 

Über den Körper hinaus

In diesen Versen drückt sich im Vergleich zur Geschichte Bileams (Num. 22) eine Umkehrung der Bedeutung des Esels aus. Während bei Bileam der Esel der Sehende ist und reagiert, ist der Esel bei Abraham der, der nichts sieht. Das heißt, dass beim Gläubigen (Abraham) der Körper (Esel) seiner eigentlichen Bedeutung als Träger nachkommt und einwandfrei „funktioniert“, aber worum es geht und was das eigentliche Ziel des Weges ist, sieht und weiß er nicht. Was lange her und weit weg ist, erkennt er auch nicht mehr – der Körper weiß also längst nicht alles, sondern nur das, was für ihn wichtig ist. Auch die beiden Begleiter Ismael und Elieser verstehen nicht den Sinn des Weges und indem sie auf dem Weg stehen bleiben müssen, bleiben sie im wahrsten Sinne des Wortes erst einmal auf der Strecke. Stillstand.

Bileam ist ein Feind der Seele (Israel) und in dieser Gesinnung ist der Körper nicht nur Träger, sondern auch „Seher“ für Gefahren, die dem Reiter verborgen bleiben. Deshalb weigert sich der Esel weiterzugehen, aber nachdem Bileam ihn 3x geschlagen hat, fängt er sogar zu sprechen an, um dem Reiter Klarheit darüber zu geben, weshalb er stehenbleibt. Der sprechende Esel steht für körperliche Symptome, die dem Menschen Auskunft darüber geben wollen, dass er darüber nachdenken soll, auf welchem Weg er sich befindet. 

Abraham sieht den Ort von ferne und jetzt bekommt er Einsichten, die ihm von dort her, aus der Welt, aus der er kommt, einfallen, die er nicht aus sich selbst wissen kann. Deshalb sagen die Kommentare, dass Abraham auf einmal prophetisch spricht, ohne es zu wissen. Wenn ein Mensch diesen Ort erreicht hat, spricht es durch ihn, etwas Neues baut sich durch ihn. Es wird sogar gesagt, dass man einem Menschen in einem solchen Zustand beliebige Fragen stellen kann, und er sieht die Antwort, aber niemals konstruiert er bewusst etwas zusammen.

Der Verstand versteht das Heilige nicht. Erst durch das Erleben kann auch der Verstand folgen und sich beruhigen. Der Verstand ist auch nicht imstande, Prophetisches zu verstehen, weil er in Bezug auf das Heilige immer die falschen Schlüsse zieht. Was mag Abraham für eine innere Auseinandersetzung mit seinem Verstand auf dem Weg gehabt haben? Wie lähmend kann es sein, wenn man dem Verstand zuhört und erkennen muss, dass er zwar richtig kombiniert, sich seine logische Plausibilität jedoch innerlich ganz falsch anfühlt? In wessen Interesse argumentiert er? Gelehrtheit und Intelligenz, die die Seele ausschließen, stehen einem Bileam näher als einem Abraham, der den Weg innerlich zitternd geht, nicht wissend, worauf es hinausgeht, um am Ende, in allerletzter Sekunde könnte man in diesem Fall sagen, eine Umkehrung zu erleben, die niemand hätte voraussagen können. 

Die Entschlüsselung unverständlicher Passagen im Wort ist nicht Aufgabe des Verstandes, sondern passiert im Gehen und Vollenden des Weges. Ab einem gewissen Punkt sieht man, worum es geht, auch wenn es noch fern ist und man es deshalb noch nicht begreifen kann. Was bis dahin getragen und begleitet hat, kann jetzt nicht mehr folgen, zwar ist der Sohn bis zum Ende dabei – um seiner Hingabe willen kam es erst zu diesem Weg! – doch nicht einmal er versteht des Vaters Walten. 

Die Wiederkunft des Sohnes

Nach diesem kaum fassbaren Ereignis auf diesem Berg wird in aller Bescheidenheit berichtet, dass Abraham zu seinen „Jünglingen“, wie die beiden Begleiter dort genannt werden, zurückkehrt. Von Isaak ist keine Rede, und es entsteht auf den ersten Blick der Anschein, als ob Abraham alleine wiedergekommen sei und sich seine Aussage „wir werden zurückkehren“ doch nicht erfüllt hätte. In wenigen Worten vermittelt die Thora, dass es einerseits aus der Sicht des Heiligen keine große Sache war und andererseits Abraham sofort ohne Tamtam wieder zum Alltag überging. Keine Pauken, keine Trompeten, kein Staatsempfang, nichts dergleichen. Auch keine Überheblichkeit den Begleitern gegenüber, nach dem Motto: „Ha, wenn ihr wüsstet, was wir gerade erlebt haben, während ihr hier getrödelt habt!“ Die Seele verachtet den Körper nicht, der Glaube sieht alle gleichwertig. Die Bibel drückt es im Original viel drastischer aus, als es die Übersetzungen wiedergeben: 

und sie machten sich auf und zogen miteinander nach Beerseba; (Gen. 22:19)

„Miteinander“ heißt JACHAD, 10+8+4, das Wort hängt mit dem Zahlwort „Eins“ (ECHAD, 1+8+4) zusammen. Mit diesem Begriff wird eine wichtige Einheit beschrieben, worin sich jeder mit dem anderen identifizieren kann. Ähnlich wird es im NT mit dem Satz gesagt: 

(…) euer ganzer Geist (PNEUMA) und Seele (PSYCHE) und Leib (SOMA) werde untadelig (á-memptos bedeutet „frei von jeder Art der Anschuldigung oder Überheblichkeit“) bewahrt (…)

1. Thess. 5:23

Dazu noch ein Zitat, worin der Autor auf das erwähnte Wort JACHAD in Bezug auf die Erzählung im Land Morijah eingeht:

In allen anderen Menschenkreisen würden nach einem solchen Aufschwung in die Gottesnähe, nach einer solchen Erhebung über alles Irdische ein Abraham und Isaak so voll gewesen sein von dem „Ich“, oder von dem „Göttlichen“ dass sie für das „gewöhnliche“ irdische Leben, und für die „gewöhnlichen“ irdischen Menschen verloren gewesen wären; ein solches — selbst nur vermeintliches — „Gott näher stehen“ erzeugt sonst überall einen Hochmut, dass man auf alle anderen Menschen als „gemeine Sterbliche“ stolz hinabblickt und eine Berührung mit ihnen meidet. Ganz davon verschieden ist der Geist, der aus Abrahams und Isaaks Beispiel sich vererben dürfte. Nachdem sie eben das Allerhöchste vollbracht, das nur auf Erden zu vollbringen ist, gehen sie zurück zu den am Fuße des Morijah gelassenen Leuten und gehen JACHAD, mit ihnen, fühlen sich in nichts höher als die anderen. Dem Abrahamssohne ist jeder in seinem Berufe gleich geachtet, er findet keinen Unterschied zwischen sich und dem niederen Holzhauer oder Diener. Je höher er (…) steht, desto weniger überhebt er sich, desto weniger weiß er von der eigenen Größe.

Rav Hirsch