hängt sprachlich zusammen mit »Reihe«; eins folgt auf das andere. Reife wird in der Natur durch das Erleben der Zeit erlangt und ist die letzte Station, die Endstation auf dem Weg des Werdens. Die Entwicklung hat ihr Ziel erreicht. Es folgt die Ernte. Von unserer irdischen Wurzel getrennt zu werden, die uns hervorgebracht und versorgt hat, hat zuweilen nichts mit Abtrünnigkeit, sondern mit Reife zu tun. Einige Pflanzen lassen die reife Frucht auch fallen. Wenn sich unser Umfeld von uns distanziert, kann das durchaus etwas mit Reife zu tun haben.
Erst mit der Reife zeigt sich der Sinn, kommt in der Natur Farbe, Duft und Geschmack. Vorher durchläuft eine Frucht unterschiedlichste Stadien, die in der Regel eines gemeinsam haben: Die heranwachsende Frucht ist währenddessen ungenießbar. Mit der Reife kommt die Hingabe. Welche Frucht wächst um ihrer selbst willen? Meist enthält die Frucht den Samen für neues Leben. Manche Früchte enthalten viele Samen, manche nur einen Kern, jede nach ihrer Art.
Beispielhaft ist der Reifeprozess auch bei der Entwicklung eines Schmetterlings zu beobachten, der die Stadien vom Ei über die Raupe unter fortwährender Veränderung seiner Form bis zur Verpuppung durchläuft. Die Raupe wächst, indem sie frisst und so die Welt in sich aufnimmt.
Mit der Metamorphose, die während der Verpuppung stattfindet, endet auch die Entwicklung. Wenn das Insekt aus der Puppe schlüpft, dauert es oft noch einige Stunden, bis sich der Schmetterling im wahrsten Sinne des Wortes entfaltet hat. Der Schmetterling durchläuft keine Entwicklung mehr. Er ist »fertig«. Fertig stammt von fahren, und bedeutet eigentlich »fertig zur Reise«. Ich bin bereit, es kann losgehen! Aber wohin? Wohin geht der Weg des Schmetterlings? Wohin geht eine Frucht losgelöst von ihrer Wurzel? Die Frage nach dem Wohin und Wozu kann eine reife Frucht kaum beantworten. In 1. Mose 12 spricht Gott zu Abram:
Geh aus deinem Land und aus deiner Verwandtschaft und aus dem Haus deines Vaters in das Land, das ich dir zeigen werde.
Auch hier die Trennung von den Wurzeln.
Die Herausforderung für Abram war laut Überlieferung nicht der Auszug aus seiner Heimat, sondern wie es im Hebräerbrief Kapitel 11 Vers 8 heißt:
(…) und er zog aus, ohne zu wissen, wohin er komme.
Ein reifer Mensch handelt in vollkommenem Vertrauen darauf, dass er geführt wird, dass es sich tut und es ihm seiner Art entsprechend kommt. Nicht selten verursacht eine persönliche Führung bei den Mitmenschen Naserümpfen und Kopfschütteln.
Innere Reife muss beileibe keinen äußeren Aufbruch als Konsequenz haben. Die größte Bewegung geschieht ohnehin in uns, wenn wir spüren, dass unser Weltbild, welches auf chronologischen Erklärungsmodellen basiert, in sich zusammenfällt. Im Judentum wird gesagt, man dürfe die heiligen Schriften erst »ab 40« studieren. Die Bedeutung ist, dass man der Zeit enthoben sein muss. Denn, so Weinreb:
Der reife Mensch wird das Wort nicht missbrauchen.
Stets sucht er das Heilige im Wort, das ihn zu seiner eigentlichen Wurzel zurückführt. Unreif steht er in der Gefahr, es sich selbst zum Schaden zu verwenden. In der Hingabe baut es sich bei uns. Durch An-sich-Reißen bleibt nur die leblose Hülle des Wortes übrig. Diese ist alles andere als ein Genuss. Wen wundert es da, wenn sich bei Menschen heutzutage alles zusammenzieht, sobald sie nur das Wort »Bibel« hören. Zu lange hat man unreife Früchte verteilt. Das Heilige wird in der Profanierung stets ungenießbar. Profan, entweiht, stammt von »pro fanatisch«, einer selbstredenden Wortkombination.
Auf Hebräisch lautet das Wort für »reif« baschél, 2-300-30. Ein Ausdruck, der bis auf wenige Ausnahmen mit kochen übersetzt wird. Dazu ist die Hitze notwendig, die entweder vom Feuer oder der Sonne kommt. Beides wird im Alten Wissen mit dem Jenseitigen in Verbindung gebracht. Erleben wir unseren Alltag in der Beziehung zum Ewigen, findet dieses Kochen bzw. Reifen bei uns selber statt. In dem Glauben, dass die erscheinende materielle Welt alles ist, kommt der Mensch nicht zur Reife, egal wie alt er ist. Manchmal ist es auch so, dass wir nur verschiedene Anteile unseres Lebens in Beziehung zur »anderen« Welt sehen. Die übrigen Bereiche ordnen wir lieber selbst … und bleiben dort ungenießbar. Dort aber, wo wir unser Leben im Vertrauen auf unseren inneren Ursprung gründen, reifen Früchte, deren Verzehr die Seele erquickt.