Schöpfer – Eltern – Kind

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Es besteht oft die Tendenz, die Entwicklung der Welt mit der individuellen Entwicklung des Menschen zu vergleichen, und das mit gutem Grund. Diese Sichtweise führt die moderne Welt zu der Annahme, dass die Frühphase der Menschheit von menschlicher Hilflosigkeit, Abhängigkeit, Primitivität und Naivität geprägt war. So wie das Kind in seinen ersten Stadien nicht sprechen kann, so konnte der [Ur-]Mensch [aus der Sicht der Evolutionsbiologie] nicht sprechen, hatte keine Sprache zur Verfügung, sondern konnte nur Laute ausstoßen, je nach seinem Bedürfnis nach bestimmten Dingen. Allmählich entwickelte sich die Menschheit auf diese Weise und erreichte über manchmal grausame Zeiten der Jugend und der Rebellion schließlich das Stadium der Weisheit und Einsicht, das dann mit der Zeit gleichgestellt wird, in der wir jetzt mehr oder weniger leben.
Dieses Bild ist sehr verführerisch, vor allem weil es eigentlich richtig ist. In der Tat sind die verschiedenen Erscheinungsformen miteinander identisch und nur durch die Brechung in verschiedene Facetten sehen wir unterschiedliche Dinge, die aber in Wirklichkeit von demselben Wesen stammen.
Dass die Welt diesen Vergleich so anstellt, und dass in der Tat so wenig in der Öffentlichkeit gegen diesen Vergleich gesagt wird, liegt daran, dass wir selbst nicht so genau wissen, was der Platz und die Verhältnisse des Menschen sind. Der große Irrtum in dieser Argumentation ist identisch mit dem großen Irrtum, wie sich diese Welt immer wieder selbst zu betrachten geneigt ist.

In der Tat, wenn man die Welt bei sich selbst beginnen lässt, dann ist das oben verwendete und erwähnte Bild ganz richtig, aber so wie der Mensch nicht der Anfang von allem ist, wenn er als Säugling erscheint, so ist auch die Welt in dem Moment, wo sie für uns sichtbar wird, nicht der ursprüngliche Anfang.
Ein kleines Kind ist in seinen körperlichen Handlungen und auch in seinem körperlichen Denken äußerst primitiv, doch hat es genau in dieser Zeit seine Eltern als große übergeordnete und bestimmende Macht. Diese denken und handeln für ihn, und sie leiten es auf eine Weise, die für sein späteres Leben bestimmend ist.

Wenn man also davon ausgeht, dass die Welt elternlos und verlassen entstanden ist, dann ist die Geschichte vom primitiven keulenschwingenden Altertum in der Tat richtig, und wer sich von dieser Geschichte verführen lässt, der glaubt im Grunde nicht an das Vorhandensein der elterlichen Liebe Gottes zur Welt; er glaubt im Grunde nicht, dass Gott auch in dieser Welt erscheint, anwesend ist und alles bis ins Detail lenkt. Wir sehen auch eine Entwicklung in der Menschheit parallel zu der des Kindes, weg von den Eltern. Die Menschheit war bemerkenswert primitiv in bestimmten körperlichen und geistigen Beziehungen [Denkrichtungen]. Zum Beispiel schien der Mensch nicht mehr gut durch seine Augen sehen zu können, hatte die seltsamsten Vorstellungen über die Beschaffenheit seines Wesens und über die Beschaffenheit der ihn umgebenden Dinge. Er war zu ungeschickt, um Dinge visuell genau zu sehen, sein Denken war schlicht zu kindlich, um Maschinen zu erfinden, alles, was er tat, hatte den Charakter von Dingen, die ein Kind tut. Andererseits kannte er aber viele Geschichten und Mitteilungen über die Welt, die wir heute als kindlich ablehnen. Wenn wir den Vergleich zwischen dem Kind und der Welt fortsetzen – und dazu sind wir in jeder Hinsicht berechtigt, denn schließlich entsprechen sich diese beiden Kreisläufe -, dann wissen wir, dass die Geschichten, die das Kind erhält, von seinen Eltern stammen. Nun haben menschliche Eltern die Alternative, ihren Kindern die Wahrheit oder die Unwahrheit zu sagen. Bis vor nicht allzu langer Zeit haben Eltern ihren Kindern meistens die Wahrheit gesagt, weil sie ihnen von ihren Eltern bis zum allerstersten Anfang zurück überliefert worden war. Es waren zwar Geschichten, die nur von den Eltern den Kindern erzählt werden konnten, weil sie Dinge enthielten, die das Kind unmöglich selbst verstehen und konstruieren konnte, aber so wie ein Kind mit Aufmerksamkeit und Liebe den Geschichten seiner Eltern zuhört und sich tatsächlich geborgen und gewärmt fühlt, wenn solche Geschichten erzählt werden, die es nie langweilen, sondern im Gegenteil eine immer intimere Atmosphäre schaffen, so erzählte man auch seinen Kindern die Geschichte des Lebens. Die alten Griechen haben es so erzählt, wie wir es heute noch, wenn auch sehr entstellt, in den Geschichten der griechischen Mythologie finden; die alten Ägypter so, wie wir es in den altägyptischen Berichten sehen; die Assyrer, Inder usw. auf ihre eigene Art; doch alle diese Geschichten hatten gemeinsam, dass sie der Körper, die Hülle eines gemeinsamen Kerns waren, nämlich des Sinns der Welt, des Warum dieser Welt und des Wozu.
So wie der Mensch in seinem Kindheitsstadium die Geschichte von seinem Schöpfer erzählt bekam, so sind im menschlichen Sinne die Eltern die Schöpfer des Kindes. Doch während die Eltern eine relative Angelegenheit sind, die wieder von anderen (deren) Eltern abhängen, lebend in einer zerbrochenen Welt, nämlich der Welt der Gegensätze und der Zweiheit, können diese stets eine Lüge neben einer Wahrheit erzählen, wohingegen der Schöpfer der Welt selbst die Einheit ist und nur die Wahrheit erzählen kann.
Die Botschaften, die die Menschheit in ihrer Urzeit in der Kindheit erhielt, waren die Geschichten, die die Eltern ihren Kindern erzählten. Diese Eltern konnten weiter und tiefer sehen, da sie schon da waren, bevor das Kind in diese Welt kam, und die selbst Botschaften aus noch früheren Zeiten hatten. Sie hatten auch den Überblick davon, was für das Kind später gut oder weniger gut sein könnte; genauso erzählte Gott der Welt die Geschichte vom Sinn des Lebens, wie und warum es dazu gekommen war und dass es auf jeden Fall so sehr gut war. Aber so wie das Kind das Stadium erreicht, dass es mit einem Achselzucken an diesen Geschichten vorbeigeht, lächelt und später sagt: „Wie konnte ich mich nur so verschaukeln lassen“, so erreicht auch die Welt das Stadium, dass sie Geschichten, die von Gott erzählt werden, nicht mehr ernst nehmen will, weil sie sich selbst zu Gott erklärt hat. Das Kind installiert sich selbst, empfängt die Eltern als Gäste, lässt sich von den Eltern nicht zu viel sagen, will unabhängig sein und obwohl der Bruch äußerlich nicht sichtbar ist, ist er innerlich vorhanden.

Auch dies ist ein neuzeitliches Phänomen. Natürlich wird in der Bibel erwähnt, dass das Kind das Elternhaus verlässt, wie es heißt, „um ein Fleisch mit der Frau zu werden“, aber das bedeutet nicht, dass der Vater vergessen wird. Wir wissen aus Erfahrung, dass bis vor einigen hundert Jahren die Eltern – auch wenn sie mehrere Generationen hinter sich hatten – noch als Mittelpunkt der Familie, als Informations- und Hilfsquelle in allen Lebenslagen angesehen wurden, und dass es für ein Kind angemessen war, gegenüber seinen Eltern bescheiden zu bleiben, wie gegenüber jeder älteren Person, mit dem Gefühl, dass das, was älter ist und in der Vergangenheit gewesen ist, immer mehr wert ist als das, was neu ist und weniger von dieser Welt gesehen hat.
Diese Einstellung hat sich völlig verändert: Je älter ein Mensch wird, desto mehr verliert er heute seine Würde, nicht nur in den Augen der Welt, sondern auch in Bezug auf sich selbst. Er fängt an, sich den jungen Leuten unterlegen zu fühlen, die ja mehr wissen, größere Einsichten haben, und mit den neuesten Fortschritten vertraut sind. Der alte Mensch, der dem Ende seiner Tage nahe ist, weiß auch nichts mehr von seinen Eltern, und hat längst vergessen, dass er als Mensch immer ein Kind bleibt, das von Gott Botschaften für sein Leben und über die Welt empfängt. Er hat begonnen, sich selbst zu einem Gott zu machen und bemerkt, dass die heidnischen Götter immer junge Götter sind, dass das Heidentum nur Jugend kennt.
So wie es heißt, dass sich am Ende der Tage die Jungen gegen die Alten erheben werden, so sehen wir die Entwicklung tatsächlich in diese Richtung gehen. Die Alten werden nur noch aus Pietät geduldet, weil man das aus einer Art Pflichtgefühl heraus so macht, aber nicht mehr, weil sie als Mittelpunkt der Familie geachtet und geschätzt werden.

All dies entspringt einem tief verwurzelten Glauben, und das ist der einzige Glaube [der Glaube, der noch mit der Eins verbunden ist], denn [ihr] wirklicher Glaube beruht auf der Überzeugung, auf dem Wissen, dass die Welt als hilfloses Kind ohne Vater entstanden ist und sich selbst bilden musste, so wie wir bei Tieren oft sehen, wie sie sich unmittelbar nach der Geburt selbst erhalten müssen. Aber sogar bei den Tieren gibt es ein Vorher, einen Schöpfer in der Tierfamilie, der doch etwas erlebt hatte und auf jeden Fall etwas erzählen könnte.

Unsere Wissenschaft hat uns selbstgefällig gemacht und uns die Überzeugung gegeben, dass nur wir der Gott in dieser Welt sind und alles andere nur ein störender Zufall ist, eine Art Variable, die wir noch nicht beherrschen, die wir aber im Laufe der Zeit zu beherrschen hoffen. Wie die Schlange im Paradies dem Menschen sagte: „Du kannst werden wie Gott, Gott gleich“, so flüstert uns die Wissenschaft bereits zu, dass wir wie Gott werden können.
So entwurzelte sich die Menschheit selbst von Gott, indem sie diesem Ansatz folgte. Sie emanzipierte sich von Gott und duldete keine Geschichtenerzähler mehr. Das ist der Grund, warum Märchen mit Lügen gleichgesetzt werden und warum die Bibel nur insoweit akzeptiert wird, als sie mit unserem Verständnis übereinstimmt, und einfach ignoriert oder kritisiert wird, wenn sie Dinge vermittelt, die wir mit unseren Maßstäben nicht erfassen können und die wir niemals verstehen können, wenn wir nicht unsere Maßstäbe ablegen und die uns von Gott gegebenen Maßstäbe aufgreifen. Das Gleichnis vom Kind, das in dieser Welt aufwächst, und der Welt, die sich selbst immer weiter entwickelt, ist also richtig. Es kommt aber darauf an, wie weit man sieht; wenn man über die Geburt des Kindes hinaus in die Vergangenheit blickt, wenn man die Eltern sieht, wie sie das Kind eigentlich aus Liebe haben geboren werden lassen, wenn man das Leid der Mutter erkennt, durch das dem Kind das Leben geschenkt wurde, und wenn man die Fürsorge und Liebe für das Kind beim Heranwachsen nicht vergisst, den Willen, dem Kind das Wahre zu sagen, ihm den richtigen Weg zu zeigen, es mit Weisheit zu führen, dann wird auch der Vergleich mit dieser Welt ein ganz anderer sein. Wo aber das Kind seine Eltern verleugnet, von ihrer Liebe und Wärme nichts wissen will, sich sogar dafür schämt, von ihnen gehegt und gepflegt worden zu sein, da ist die Welt eine ganz andere, ja eine kalte Welt, und alles Ältere wird rücksichtslos beschämt und abgelehnt; was man als Elternteil Gott gegenüber tut, erlebt man an seinen Kindern.
Sobald die Welt, auch durch die Kirche, anfängt, Geschichten über primitive historische Zeiten, über das Wachstum der Sprache, über primitive Sitten in der biblischen Geschichte zu akzeptieren, die wir bereits hinter uns gelassen haben, indem wir zum Beispiel sagen, dass wir Frauen nicht mehr unterdrücken, keine Sklaven mehr halten, keine Opfer mehr bringen, und damit zeigen, dass wir es besser wissen als die Geschichte, die Gott uns erzählt, wenn wir versuchen, die Millionen Jahre Zeit (wissenschaftlich gesehen) mit der weniger als 6000 Jahre alten Schöpfung in Einklang zu bringen, wenn wir die Bibel entmythologisieren und in einen historischen Kontext stellen wollen, dann tun wir nichts anderes, als die Geschichte, die uns in Liebe erzählt wird, abzulehnen und unsere eigene Geschichte zu machen, die Geschichte, die von unseren Augen und unseren Sinnen geschaffen wird.
Wenn wir zum Beispiel die Opfer nur als das Durchschneiden des Halses eines Tieres aus einem bestimmten Grund sehen, als ob Gott wirklich etwas davon hätte, und nicht erkennen, dass das ganze Leben des Menschen in der Nachfolge Gottes ein Opfer ist, genau so, wie Gott in der Bibel von den Opfern erzählt.
Wenn wir die Sklaverei nur als soziale Erscheinung sehen, nur äußerlich, und dabei vergessen oder besser gesagt nicht wissen wollen, dass unser Sklave in unserem Körper ist und auf eine ganz besondere Weise behandelt werden muss; wenn wir die Gesetze betreffs der Frauen nur als soziale Gesetze sehen und nicht erkennen, dass sie auch unser Verhältnis zu unserem Körper betreffen, wie wir ihn rein und würdig halten müssen, dann ist die Geschichte der Bibel in der Tat nichts weiter als ein nutzloses Märchen mit viel belanglosem Drumherum, das man leicht abstreifen kann, bis nur noch ein paar Sätze übrig bleiben, die man gerne zitiert, weil sie zum Leben des braven Bürgers passen. Weil man begonnen hat, die Bibel so zu betrachten, hat man in der Tat seine Eltern verstoßen, man ist allein geblieben, weiß nicht mehr um den Einfluss der Eltern und sieht sich blinden Naturkräften ausgeliefert, die wir ‚Zufall‘ und ‚Pech‘ nennen, Störung von Ruhe und Ordnung durch wilde Völker, weil wir nicht mehr erkennen, in welcher Weise der Lauf der Welt bereits von Beginn an festgelegt ist und wie diese Weltgeschichte eine aus Liebe geformte Botschaft an uns ist, so wie jeder Mensch in Nachahmung dessen nur aus Liebe Dinge mitteilt, die er selbst schön und zentral findet.

[Der Text ist über 60 Jahre alt und berücksichtigt nicht den Umstand entwurzelter Eltern, die selbst keinerlei Beziehungen mehr zum Ewigen haben, sondern im Materialismus versunken sind. Das Hebräische kennt kein eigenständiges Wort für „Eltern“, sondern sagt „Vater und Mutter“. Zu diesen sagt Weinreb im Vortrag „Traumleben“]:

Vater und Mutter gehören zusammen. Eine Trennung der beiden im Menschen bedeutet Gefahr. »Ab«, Vater, schreibt sich 1-2, zusammen also der Wert 3; »äm«, Mutter, 1-40, zusammen 41. Die Summe der beiden Werte ist 44. In dieser Zahl drückt sich das Nur-Zeitliche aus*; das aber ist eigentlich der Tod, denn was hier nur Zeit zeigt, bringt Untergang. Werden nun »ab« und »äm« durch das Zeichen für »und« — Waw — miteinander verbunden, dann ergibt sich einschließlich des Zahlenwertes der Waw, 6, als Summe die Zahl 50 (ab w*äm, 1+3+6+1+40); sie steht — ebenso wie die 500 — für das Jenseitige. In der Gemeinschaft von Vater und Mutter ist das Jenseitige anwesend. Die Trennung bringt Gefahr.
Wenn Vater und Mutter im Konflikt sind, verlieren die Kinder den Halt, kennen ihr Fundament nicht mehr, wissen nicht, woher sie kommen. Es gibt im Menschen Zeiten der Verbundenheit und Zeiten der Trennung des Elternpaares; ein Maß aber für die Zeitspanne, in der sie verbunden oder getrennt sind, gibt es nicht. Es kann sein, dass eine Stunde der Verbundenheit mehr wiegt als Jahre der Trennung; es kann aber auch sein, dass ein Augenblick der Trennung eine lange Zeit der Verbundenheit zunichtemacht. Beides lebt im Menschen, der als Mensch eine Einheit bildet. Er hat das Männliche in seinem Verborgenen, in seiner Erinnerung, in seinem Akausalen, wo die Phantasie lebt und kreieren kann, und das Weibliche in seiner Erscheinung hier, die das Leben trägt, und wo er weiß, dass er Frucht empfangen kann, sie vom Himmel erwartet. (…)

*Die Zahl 44 entspricht der diesseitigen Seite des Menschen; mit der 1 hinzugefügt ist es dann 1-4-40: »Adam«, der ganze Mensch. »Dam« allein, 4-40, heißt »Blut«; es wird von der Erde bedeckt, soll im Geheimnis aufgenommen werden. Deshalb äußert sich in der 44 das noch Unvollendete. — Von der 50 spricht man als von der neuen 1, die nach der 7 x 7 (= 49) kommt. Es ist die Neue Welt, der 8. Tag, der Durchbruch des Neuen als Verbindung von »Vater« »und« »Mutter«.

(Weinreb, Traumleben 3, Seite 157)