Vater und Mutter ehren !?

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In unserer heutigen Gesellschaft hat der Begriff „Volljährigkeit“ eine eigentümliche Bedeutung erhalten. In der gegenwärtigen Zeit bedeutet das Erwachsen-Sein im Sinne der Volljährigkeit: Man bekommt eine Menge Rechte und kann selbst entscheiden. Dies ist eine weitere Umkehrung der Wirklichkeit. Erwachsen-Werden bedeutet, dass man Verantwortung und Pflichten bekommt, aber vor allem nicht, dass man das Recht hat, sich von dem zu lösen, was einen früher gebunden hat. Respekt und Autorität der Eltern gelten genauso wie vor der Volljährigkeit. Es heißt nicht: „Ehre deinen Vater und deine Mutter, bis du volljährig bist“, sondern es gilt absolut, auch wenn man schon 80 Jahre alt ist und Vater und Mutter nicht mehr leben.
Doch die Gesellschaft kennt den Bruch, die Loslösung vom Bisherigen, hat den Egoismus und sucht seine Rechte. Man emanzipiert sich, so wie die awodah sarah [hebr. für Götzendienst, wörtl. „Dienst am äußeren Kreis“] sich von Gott emanzipiert hat [gemeint ist, dass der Mensch sein inneres Zentrum verlässt und nur noch nach äußeren Gesichtspunkten agiert.]. Die Gesellschaft folgt diesem Ansatz. Moderne Menschen brechen die Bindung an die Eltern, an das Vorherige, also eigentlich auch an Gott. Die Eltern sind immer höher und damit näher bei Gott. Keine Volljährigkeit kann das aufbrechen.

Eltern, die vom Weg abgewichen sind,
verwirken Ehrerbietung und Respekt

Nur zu Eltern, die vom Weg abgewichen sind und ihre Kinder ebenso vom Weg wegziehen, muss die Bindung unbedingt gelöst werden. Deshalb fügt Gott in demselben Satz des „(Ein) Mann fürchte seine Mutter und seinen Vater;“ hinzu: „und meine Schabbate sollt ihr hüten. Ich bin JHWH, euer Gott.“ (3. Mose 19,3)

Das heißt, die Einheit Gottes, die als 1 [ausgedrückt im Schabbat] gegenüber den anderen 6 Tagen steht, hat mit Respekt vor den Eltern zu tun. Beim Schabbat geht es nicht um das äußerliche „jetzt darf ich nichts arbeiten“, sondern um den 7. Tag, der zum 8. Tag, dem Tag der Erlösung, der Auferstehung führt.
Wenn aber die Eltern ihre Kinder von diesem Weg abbringen, müssen diese Kinder sich an die Eltern binden, die vor den ihrigen gewesen sind [Großeltern, Urgroßeltern], die direkte Verbindung also überspringen und sich an die Vergangenheit binden, wo noch die Einheit mit Gott gesucht und gelebt wurde. Es ist daher ein weiterer törichter Missbrauch, den viele Eltern treiben, dass sie ihren eigenen Kindern Gehorsam, Achtung und Ehre mit der Berufung auf das Bibelwort „Du sollst Vater und Mutter ehren“ abverlangen, wiewohl sie selbst einen anderen Weg gehen und diesen Weg der Abweichung obendrein ihren Kindern vermitteln oder diese sogar daran hindern den Weg der Umkehr zu gehen, denn der 7. Tag ist der Weg zurück.
[Das Zahlwort Sieben, scheva, 300-2-70, hängt mit dem Wort für Umkehren schuv, 300-(6)-2, zusammen.]

Gott selbst lehnt dies ab und sagt, dass man derlei Eltern nicht mehr als solche anzuerkennen braucht, weil diese selbst wiederum als Kinder anderer Eltern ihrerseits bereits die Bindung zu diesen auf rebellische Art gebrochen haben und nun ihre eigenen Kinder zwingen wollen, diesen Weg der Rebellion fortzusetzen, indem sie sich unberechtigt auf die Bibel berufen. Aus diesem Grund verbindet Gott ausdrücklich die Achtung vor den Eltern mit der Einhaltung des Schabbats, d. h. mit der Einhaltung der 1, die als Ruhetag den 6 Tagen des Werkens und Wirkens gegenübersteht. Nur wenn die Eltern dies konsequent einhalten, die Verbindung von Anfang an aufrechterhalten, ist es für den Menschen eine natürliche Verpflichtung, in allen Dingen den Rat seiner Eltern zu suchen und ihren Weg zu gehen. Dann ist das Erwachsenwerden nichts anderes als die Übernahme von Mitverantwortung, während bis dahin die Verantwortung bei den Eltern alleine lag.

In gleicher Weise erlangt die Welt an einem bestimmten Punkt ihre Volljährigkeit, was aber nicht bedeutet, dass sie sich von Gott und den vorangegangenen Generationen trennen darf, wie es der Fall war, sondern dass sie mitverantwortlich wird. Sie wurde in eine Selbstständigkeit gebracht, musste aber nun die Bindung [zu ihrem Ursprung bzw. dem Schöpfer] in freier Entscheidung, lebend in der Alternative, aufrechterhalten. Doch mit der Renaissance fühlte sich die Menschheit mündig und unabhängig und verzichtete auf den Gehorsam gegenüber dem Alten, indem sie sich über das altmodische Mittelalter lustig machte, so wie eine junge Generation über die ältere lächelt und mit den Schultern zuckt. Die Renaissance vergaß jedoch, dass die europäische Menschheit mit diesem Erwachsenwerden keine Rechte, sondern Pflichten erwarb. Und so muss jeder Mensch wissen, dass sich mit der Volljährigkeit nichts an den Pflichten gegenüber den Eltern ändert, im Gegenteil, dass gerade jetzt, wo die Möglichkeit des Loslassens besteht, diese Pflicht noch mehr obliegt, und zwar nicht nur gegenüber den unmittelbaren Eltern, sondern auch gegenüber den Großeltern, Urgroßeltern usw. Die Linie muss bis zum Anfang gehalten werden. Im Alter der Volljährigkeit beginnt die Mitverantwortung und Mitgestaltung der Welt.
Mit der Volljährigkeit, wie sie die Bibel kennt, wurde der Mensch auch fruchtbar, konnte selbst Neues hervorbringen und konnte selbst Eltern(teil) werden.

Nach Friedrich Weinreb – Bloemlezing van overdenkingen uit de periode 1948-1950.
Zur Verfügung gestellt durch Abel Weinreb.


Sobald ein abgewichener Elternteil umkehrt, ist die Verbindung wieder hergestellt. Verharrt jedoch der betreffende Elternteil auf der Trennung vom Ursprünglichen, wird er wie jemand angesehen, der den eigenen Kindern Diebesgut vermacht.
Der von Weinreb zitierte Vers erwähnt gegenüber dem Text in 2. Mose 20 die Mutter zuerst. Die Überlieferung schreibt dazu, dass die Mutter der Nacht und der Vater dem Tag entspricht. Die Ruhe des 7. Tages beginnt ebenso mit dem Abend und endet am folgenden Tag. Der irdische Vater und die irdische Mutter stehen stellvertretend für den innerlichen und den äußerlichen Ursprung, aber nur dann, wenn sie diesen selbst suchen. Andernfalls werden solche Eltern nicht anerkannt, weil es letztlich darum geht, dass alles auf Gott bezogen wird, wie auch der zitierte Vers (3. Mose 19,3) mit dem Ausspruch endet „ani ha-schem elohejchem“, „Ich (bin) JHWH, euer Gott“.
Auch der oft zitierte Vers in 2. Mose 20,12:

Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit deine Tage verlängert werden in dem Land (adamah), das JHWH, dein Gott, dir gibt.

… folgt direkt auf das Gedenken und Heiligen des 7. Tages in den vier Versen zuvor. Dazu sagen mehrere Kommentare sinngemäß: Eines bindet an das andere wie eine Kette. Zerbricht ein Glied, ist auch das Folgende losgelöst.
Zum Halten des Schabbat hier ein Zitat aus dem verschriftlichten Vortrag F. Weinrebs über das Markus-Evangelium:

Sabbat (vergriechischt, original ist Schabbat) bedeutet »ruhen«, »sitzen«. Gott ruht, weil die Welt vollkommen ist. Den Sabbat halten, heißt also, dass man von innen überzeugt ist, dass die Welt vollkommen ist. Wie es ist, ist es vollkommen, ohne Frage. Sonst ist man ein Sabbat-Schänder, entweiht den Sabbat, das heißt, man vertraut Gott nicht, dass er die Welt vollkommen gemacht hat. – Aber schau doch die Schicksale an, die Gemeinheiten, Terrorismus, verrückte Sektierer – schrecklich! – Die Welt ist vollkommen, Gott weiß, wie es ist, wozu es ist auf dem Weg. Wir sind frei auf dem Weg, aber die Welt ist vollkommen. Wenn ich bei mir Unruhe habe, ständig die Einrichtung der Welt kritisiere, dies taugt nicht und jenes taugt nicht, Krieg wird kommen, Katastrophen wird es geben, usw., dann bin ich ein Ungläubiger, weil ich den Sabbat nicht halte. Das Halten des Sabbats nach außen, wie es die Pharisäer wollen, wäre eine Demonstration von Heuchlern. Gott hat gesagt, die Welt ist vollkommen, dann ist sie vollkommen. – Das sehe ich aber nicht. – Du siehst im Zeitlichen, und was siehst du da schon? Hier könntest du glauben.

Weinreb, Das Markus-Evangelium

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Autor: Dieter Miunske