Wenn ein solcher bricht, fliegen sie einfach davon und setzen sich auf den nächsten Ast. Vögel vertrauen nicht auf die Stabilität der Äste, sondern auf ihre Flügel und die Fähigkeit, diese zu nutzen.
Wenn etwas, das in der Zeit gewachsen ist und vielleicht lange stabil war, Früchte getragen hat, aus irgendeinem Grund morsch wird und nicht mehr trägt, dann wird man als Vogel kein großes Leid tragen, sondern einfach woanders hinfliegen. Als „Nicht-Vogel“ kommt es wahrscheinlich zu einem Fall, vielleicht sogar zu einem tiefen Fall, mit erheblichen Konsequenzen für den, der auf die Stabilität des Astes setzte.
Alles in der Zeit Erscheinende kommt und geht – es ist nur eine Frage der Zeit. Man nennt das auch „das Opfer der linken Seite“. Dass Isaak „geopfert“ werden soll, wird auf diese Weise begründet.
Die linke Seite umhüllt das Wesentliche, das Unsichtbare, das rechts steht, schafft es aber nicht, es dauerhaft zu halten.
Im genannten Beispiel des Vogels könnte man auch darüber nachdenken, dass der Ast ohne den Vogel, der darauf landete, nicht gebrochen wäre. Manchmal bricht etwas, das so aussah, als ob es uns Halt gäbe, unter uns weg, weil wir selbst eine zu große Last für diesen Ast waren. Manchmal zerbrechen Menschen sogar an sich selbst, weil sie sich selbst eine zu große Last sind. Aber was genau ist diese Last?
Vögel werden mit der Seele verglichen, die sich auch für eine Weile hier in der Welt der Zeit niederlässt, um auszuruhen. Nephesch (Leibseele) bedeutet als Verb ausruhen (naphasch).

Das Ansprechen der Bedürfnisse der Seele empfinden manche schon als belastend; andere fühlen sich bedrängt, wenn man überhaupt von einer Seele spricht. Im Niederländischen heißt eine Seele „Ziel“ und wird genauso geschrieben wie das dt. Ziel. Auch wenn es sich eher um ein Wortspiel handelt, finden wir doch in der Bibel bestätigt, dass die Seele einen höheren Stellenwert hat, als der Körper, und ihre Pflege und Rettung das eigentliche Ziel ist.
Der Vergleich mit dem Vogel offenbart, dass sich die Seele im Gegensatz zum Körper erheben kann, indem sie eine Bewegung vollzieht, die der Vogel mit seinen Flügeln ausführt. Ein Flügel heißt kanaph, 20+50+80. Die beiden letzten Buchstaben sind die beiden ersten im Wort nephesch, 50+80+300. Man kann sogar beide Wörter an der Stelle ihrer Übereinstimmung übereinanderlegen und erhält dann das Wort k’nephesch (wie die Seele).
Die Flügel eines Vogels erzeugen durch die Auf- und Ab-Bewegung beim Starten einen Unterdruck an der Oberseite und einen Überdruck an der Unterseite der Flügel. Die Seele macht es ebenso. Wenn sie sich erheben will, baut sie im Menschen einen Sog (Sehnsucht) nach oben auf und Druck entsteht nach unten hin in irdischen Angelegenheiten. Dieser Vergleich zeigt auch, dass ein problemloses, druckloses Leben in irdischen Belangen damit zusammenhängen kann, dass die Seele erschlagen wurde und keine Sehnsucht (Sog) mehr aufbauen kann. Eine lebendige Seele wird nicht dauerhaft nach oben streben, wie es sehr deutlich am Gleichnis des Senfkornes dargestellt wird; sie will auch ausruhen und den Schatten genießen (Luk. 4:31-32). Aber sie hat jederzeit die Möglichkeit, ihren Ort nach oben hin zu verlassen.
Ein Mensch, der diese Fähigkeiten besitzt, hat einiges mit einem Vogel gemeinsam. Typisch für diese Tiere ist, dass ihre Stabilität überwiegend durch hohle Knochen realisiert wird. Im Hebräischen ist das Wort für Knochen identisch mit dem Selbst des Menschen (עצם). Das innere Selbst-Verständnis eines solchen Menschen besteht nicht aus Masse, sondern aus dem Element, in das er sich auch aufschwingen kann (Luft). Dieses Element ist bei ihm eingeschlossen, es gehört zu ihm, macht seine Persönlichkeit aus. Dort, wo andere auftrumpfen und etwas Konkretes vorzuzeigen haben, wird er für sich im Stillen wissen: Ich habe das nicht, und genau deshalb kann ich so schnell wie ich gekommen bin, auch wieder verschwinden.
Für den Vogel gilt, dass dieselbe Last, die den Ast zum Brechen brachte, diesem Vogel in der Luft Stabilität verleiht, sodass er sogar bei starken Winden noch sicher unterwegs ist. Wenn große Seelen hernieder kommen, kann das das Ende für Bereiche sein, die vertrocknet sind und nicht mehr gen Himmel wachsen, aber einer solchen Seele wird dieser Zerbruch, dieser Untergang des ohnehin schon Toten nichts anhaben. Sie wird sich erheben und einen anderen Ort suchen.