Vom Vater entfremdet

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Ein Mann (damals etwa 80 Jahre alt) erzählte mir vor einigen Jahren folgende Begebenheit aus seinem Leben:

Er war als Soldat im Zweiten Weltkrieg. Das Erlebte in dieser Zeit war sehr stark und er wurde des Lebens überdrüssig. Nichts ergab mehr einen Sinn. Er betonte, dass nur das Wissen um seine Familie, die sicher auf ihn wartete, ihm die Kraft gab durchzuhalten. Er überlebte den Krieg und kehrte zurück zu seiner Familie. Am Haus angekommen, klingelte er und wartete gespannt darauf, wer ihm aufmachen würde. Die Tür öffnete sich und vor ihm stand seine kleine Tochter. Sie war kurz vor Ausbruch des Krieges geboren und nun zu einem Mädchen im Grundschulalter herangewachsen. Der Vater konnte sein Glück kaum fassen, sprach sie mit ihrem Namen an und schaute  erwartungsvoll in ihre großen Augen. “Wer bist du?“, fragte sie. “Na, dein Papa!“ “Nein, du bist nicht mein Papa, der ist drinnen.“ … “Du bist nicht mein Papa” … klang es in ihm nach.
Der Heimgekehrte war zuvor für tot erklärt worden, sodass sich seine Frau dazu entschloss, erneut zu heiraten. »Drinnen« befand sich der Stiefvater, den das Mädchen für ihren richtigen Vater hielt.

Der Mann sagte mir mit Tränen in den Augen, dass es sehr schwer sei mit den Ereignissen des Krieges fertig zu werden. »Es ist aber immer noch leichter, als von der eigenen Tochter nicht erkannt zu werden.« Er schloss mit den Worten: »Nie mehr in meinem Leben konnte ich mich wirklich an etwas erfreuen. Ich habe es nie verkraftet, dass mein eigenes Kind mich als Fremden betrachtet.«

Da fiel mir Joh. 1,11 ein:

Er kam in sein Eigentum, und die Seinen nahmen ihn nicht auf.

Sie nahmen ihn, das Leben, nicht auf, weil sie ihn nicht erkannten. Das Mädchen in der obigen Erzählung konnte sich nicht mehr an ihren Vater erinnern. Zumindest hatte sie keinen Zugang mehr zu diesen Erinnerungen. (Wieder-)Erkennen können wir in diesem Sinne nur durch Erinnerung. Dieses Nicht-Erkennen ist die eigentliche Tragik und die Basis für Beziehungslosigkeit. Wenn wir als Menschen keine Erinnerungen mehr an unseren Ursprung haben, ist uns das ganze Leben fremd. Wir werden teil-nahms-los, sind nicht mehr Teil des Ganzen. Nicht, weil wir es als solches nicht wären, sondern weil wir uns selbst dafür halten.
Liebe beinhaltet das Wagnis abgelehnt zu werden. Dieses Wagnis geht (wie es F. Weinreb oft erzählt hat) Gott mit dieser Welt ein. Wenn Menschen schon so tief empfinden können – wie viel mehr der himmlische Vater?!

In Joh. 1 geht es weiter mit Vers 12:

Allen denen aber, die ihn aufnahmen, gab er Vollmacht, Gottes Kinder zu werden, denen, die an seinen Namen glauben;

Nun könnte man meinen, dass es sich bei dem »ihn Aufnehmen« um einen Akt der Vernunft handele. Es geht jedoch nicht um ein kluges Abwägen, sondern um das kindliche Vertrauen, welches die Möglichkeit eines »könnte sein« einräumt. Erkennen, kennen, stammt vom Wort können. Uns ist die Fähigkeit eingeschaffen, vertrauen zu können, auch wenn alles dagegen spricht. Und dieses »könnte sein« entkräftet das »sollte Gott gesagt haben«. Das Kind Gottes zweifelt am Zweifel, den die Schlange immerfort säen will. Gott wird das in ihn gesetzte Vertrauen niemals enttäuschen.