Das Erste, woran ich mich erinnern kann, ist, dass ich eingebettet in eine liebliche Hülle war, die mich wohlriechend umgab. In dieser idealen Umgebung – meiner ursprünglichen Herkunft – blieb ich jedoch kleinwüchsig. Etwas sagte mir, dass meine eigentliche Aufgabe an einem anderen Ort sein würde, doch wo und in welchen Umständen blieb im Schweigen. Ohne große Ankündigung wurde meine Welt eines Tages erschüttert. Alles kam in Bewegung und ich war mittendrin. Plötzlich wurde es gleißend hell – noch nie zuvor hatte ich Licht gesehen. Dieses Licht konnte ich erblicken, weil die Welt um mich herum zerstört wurde. Wo war ich nur hingeraten?
Noch ehe ich realisieren konnte, wo ich mich befand, wurde es wieder finster. Ich wusste nicht, dass es solch finstere Orte gibt! Ich fand keine Ruhe, wurde umhergeschleudert und meine Umgebung verwandelte sich zunehmend in eine Masse, die sich signifikant von meinem „Ursprung“ unterschied. Nichts war so, wie ich es einst gekannt hatte.
Dann geriet ich unter Druck, der eine Weile dauerte, solange bis ich mit einem Mal den finsteren Ort verlassen durfte. Dazu habe ich aktiv nichts beigetragen; es geschah mir. Die neue Umgebung machte etwas mit mir, sie bewirkte bei mir selbst einen Durchbruch. Etwas brach aus mir hervor, was mit meiner eigentlichen Bestimmung zu tun haben musste. Ein Teil von mir blieb im Dunkeln, ein anderer wuchs dem Licht entgegen. Ich war zugleich in beiden Welten. Während mir die untere Welt Halt gewährte und mich nährte, sorgte der Teil, der sich im Licht befand dafür, dass alle aufgenommenen Nährstoffe so umgebaut wurden, dass ich immer weiter wachsen konnte. Schließlich brachte mein Leben Früchte hervor und was durfte ich an ihnen erkennen? Sie entsprachen mir, waren ein Teil von mir. Jetzt sah ich alles aus einer anderen Perspektive und verstand, warum alles hatte so sein müssen.
Eines Tages gingen diese meine Früchte ihren eigenen Weg, den ich schon hinter mir hatte. Wo das Schicksal sie hinführen würde, wusste ich nicht, aber in ihnen, so viel war klar, wohnt etwas, das darauf wartet sich zu entfalten. So ist es in allen angelegt. (Aus dem Leben eines Kernes)
Viele Fruchtkerne sind unverdaulich. Sie durchlaufen die gesamte Verdauung ohne Veränderung. Was sich verändert, ist ihre Umgebung, ihr Milieu. Zunächst eingebettet im aromatischen Fruchtfleisch, gehen sie dessen spätestens während der Verdauung verlustig und erleben einen kompletten Wandel der Gegebenheiten, wenn sie verinnerlicht werden.
Kern heißt auf Hebräisch CHARZAN (חרצן). Das Wort stammt von CHARAZ (חרץ), das mit „fest beschlossen“ übersetzt wird (siehe Daniel 9:27 am Ende). Wenn wir etwas fest beschlossen haben, ist das wie ein Kern, der sich nicht ändert, wenn wir ihn verinnerlichen. Aber bei Früchten wie bspw. einer Tomate essen wir doch nicht gezielt die Kerne, sondern in erster Linie das Fruchtfleisch, das die Kerne enthält.
Kerne stehen dafür, dass es Entscheidungen gibt, die mit angenehmen Rahmenbedingungen aufgenommen werden. Ja, das riecht und schmeckt gut. Aber mit der Dauer (Verdauung) zeichnet sich ab, dass man doch nicht alles versteht, was zu einer Realisierung beitragen könnte. Die Natur führt uns vor Augen, dass die Entfaltung unserer Entscheidungen, die uns wirklich wichtig sind, nach deren Verinnerlichung außerhalb von uns stattfindet.
Durch das Loslassen entsteht das Gefühl einer Befreiung und wie durch ein Wunder verwirklicht sich unser Anliegen wie von selbst und entfaltet sein Potenzial. Was wir nicht verstehen, wird nicht Teil von uns und es bleibt auch nicht bei uns. Das sollten wir nicht veröffentlichen, sondern ins Verborgene bringen, also unzugänglich für andere machen. So legen wir selbst den Nährboden dafür, dass das, worum es uns wirklich geht, wahr werden kann. Es ist gewollt, dass wir nicht alles verstehen. Allzu bald würde es doch zur Überheblichkeit führen und die Freude und das Staunen wäre dahin.