Wir sind nicht für alles verantwortlich

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Einige Menschen haben die Tendenz, sich selbst um alles kümmern zu wollen. Im Extremfall könnte das bedeuten, zu meinen, den Lauf der Welt verändern zu wollen. Dann sollte man eher raten: „Was mischst du dich ein? Denk lieber an dich selbst.
Aber auch in diesem Bereich des Denkens muss man vorsichtig sein, alles selbst in die Hand nehmen zu wollen. In der Tat wird es hier zu etwas, das manchmal schwer zu verstehen und noch schwerer zu bewältigen ist, denn ein Mensch kann zum Beispiel in Sorge um seine Familie sein, falls ihr etwas zustoßen sollte. Dann denkt man voller Angst an Frau und Kinder, die allein gelassen werden, stellt sich alle möglichen schrecklichen Dinge über deren Schicksal vor und denkt, dass dies und jenes das Schlimmste wäre, was passieren könnte.
Schnell bildet man sich das Urteil, dass ein solcher Mann ein ausgezeichneter und fürsorglicher Familienvater ist. Das ist er dann in der Tat, nur ist diese Qual der Sorge, die er sich selbst auferlegt, eine unnötige Qual und eigentlich steckt darin auch ein Hauch von Einbildung. Denn es bedeutet, dass das Schicksal von Frau und Kindern, solange er mit ihnen zusammen ist, von ihm allein bestimmt wird und nicht – oder zumindest nur im Hintergrund – Gott unser Schicksal in der Hand hat. Ein solcher Mensch vergisst oft, dass Gott mit Nachdruck sagt, dass er sich um Witwen und Waisen kümmert, und das gilt selbstverständlich auch buchstäblich für Witwen und Waisen.

Gott gibt dieses Versprechen auch, um uns zu beruhigen, wenn wir uns manchmal von anderen verlassen fühlen, von denen wir immer dachten, dass sie uns helfen würden und die auch ihr Bestes für uns getan und sich mit ihrer Hilfe für uns vielleicht sogar aufgeopfert haben, doch aus unterschiedlichen Gründen haben sie sich von uns zurückgezogen und uns als „Witwen“ oder „Waisen“ allein gelassen.
Manchmal muss das sogar passieren, um eine menschliche Abhängigkeit aufzulösen. Das Wort für „Waise“, jatom (יתם), 10+400+40, bedeutet auch „zum Ende kommen“ und somit „vollenden“. In der Umkehrung bedeutet es „mein Tod“, motí (מתי). Durch unseren eigenen Tod lassen wir auch andere allein – ohne uns – zurück.
Etwas weiter gefasst versteht man darunter, dass, sobald sich etwas Sichtbares entzieht und verschwindet, der Unsichtbare gegenwärtiger wird. Auch wenn er das schon die ganze Zeit war, wird diese Nähe jetzt intensiver erlebt. Diese Nähe kann so stark werden, dass man den Eindruck hat, den Unsichtbaren realer zu spüren als jemand, der konkret und sichtbar gegenübersteht.

Auf dem Weg der Suche nach dem Eigentlichen werden wir darin geschult, zunehmend unser Vertrauen vom Sichtbaren auf das Unsichtbare zu übertragen. Eine Witwe (אלמנה) enthält im Hebräischen bspw. das Wort emunah (Glauben und Vertrauen). Die Sprache teilt schon mit, dass das, worauf sie sich bislang verlassen konnte, verschwunden ist.
Andersherum ist es so, dass man, um sich von Gott zu distanzieren, kein „böser“ Mensch zu sein braucht; es genügt völlig, sich in erster Linie auf irdische Sicherheiten zu stützen und ihnen die Hauptaufmerksamkeit zu widmen. Weil nur diese Form der Lebensführung in der westlichen Welt anerkannt und als Lebensgrundlage akzeptiert wird, repräsentiert sie das große „man“ und definiert das Normale. Das alleinige Streben nach irdischer Sicherheit blockiert den Weg der Wahrheit, weil dieser nur durch Glauben und Vertrauen auf verbindliche Zusagen desjenigen, der nicht lügen kann, freigegeben wird.

Natürlich ist es die Aufgabe des Menschen, anderen zu helfen und auch sich selbst nicht zu vernachlässigen. Aber er sollte immer wissen, dass er selbst mit der ganzen Welt eigentlich eine Witwe Gottes ist. Der eigentliche Helfer auf Erden ist unsichtbar und steht uns oft genau dann zur Seite, wenn die sichtbare Hilfe ausbleibt.
Deshalb wird die Fürsorge für Angehörige – obwohl verständlich – oft übertrieben, denn auch für sie kommt, was gegeben werden sollte, und all das Gute, das für sie vom Himmel her reserviert ist, wird gewiss zu ihnen kommen.
Unser Hang, das eigene Selbstbewusstsein zur völligen Unabhängigkeit hin wachsen zu lassen, lässt uns immer wieder dahin kommen zu denken, dass die Dinge allein von unserem Handeln abhängen und – wenn wir nichts tun – auch nichts passieren wird, doch diese Annahme ist zu einseitig. Natürlich sind unsere Taten von größter Bedeutung, aber doch nicht so sehr, dass die Dinge ohne unser Handeln untergehen würden. Wir sollten tun, was wir können, aber unsere Verantwortung hat Grenzen, die in Verbindung mit unserer Beziehung zu etwas und der daraus sich ergebenden Betroffenheit stehen. Die Hauptverantwortung liegt jedoch niemals bei einem einzelnen Menschen – zu komplex sind die Bedingungen für jede einzelne Tat, als dass sie ein Mensch überblicken könnte.

Wir können nicht alle Menschen erreichen und selbst wenn wir den Eindruck haben, dass es doch langsam an der Zeit wäre etwas zu ändern, so können und sollen wir doch nichts erzwingen. In einer solchen Situation sind wir wie ein Gestorbener, der eine Witwe und Waisen zurückgelassen hat. Als solcher sollen wir in Frieden ruhen und darauf vertrauen, dass Gott sich derer annehmen wird, die von uns getrennt sind. Aus unserer Sicht und Position kann es zu unaufhebbaren Distanzen zu anderen kommen, die aber nicht für Gott gelten, der andere in das Leben derer, die wir nicht mehr erreichen können, bringen wird, um sich der Alleingelassenen anzunehmen. Manchmal sind wir es sogar selbst, die Gott an einen Ort sendet, um Distanzierte und Einsame wieder mit dem Leben zu verbinden.
Dieser Grundsatz gilt für alle Bereiche und für die ganze Welt, also auch dort, wo sich Witwen und Waisen in anderen als den uns bekannten Erscheinungsformen zeigen. Verantwortung bedeutet, imstande zu sein, fundierte und belastbare Antworten zu geben. Wahrhafte Antworten können nicht aus einer vergänglichen Sphäre wie der Zeit kommen, und so kann nur der Ewige echte Antworten geben und er allein übernimmt die volle Verantwortung, selbst wenn es aus menschlicher Sicht anders scheint.