Wohin oder Woher?

Angenommen eine Ameise sitzt auf einem Baumstamm. Wie hoch sind ihre Chancen ein bestimmtes Blatt zu erreichen, welches ich mir zuvor ausgedacht habe, ohne der Ameise davon etwas mitzuteilen? Der Auftrag an die Ameise lautet also: “Ich habe mir da oben ein Blatt ausgesucht, verrate es dir aber nicht. Versuche es schnellstmöglich zu erreichen!” An jeder Gabelung verringern sich die Chancen um eins, geteilt durch die Anzahl der Äste. Bei einem durchschnittlich ausgewachsenen Laubbaum stehen Ihre Chancen etwa 1:8.000. Setzen wir die Ameise aber auf ein bestimmtes Blatt und geben ihr den Auftrag zum Stamm zu laufen – wie hoch ist dann die Wahrscheinlichkeit, dass sie diesen beim ersten Versuch findet? 1:1, also 100%! Warum? Auf dem Rückweg gibt es keine Abzweigungen! Alles mündet in EINS. Es gibt keine Entscheidungen zu treffen.
(Das Beispiel basiert auf einer Idee von Dr. Edward de Bono)

Die zentrale Frage unseres Lebens muss also lauten: WOHER komme Ich? Das ist die Einleitung der teschuwah (Umkehr / theol. “Buße”). »Werdet wie die Kinder!« spricht Jesus in Matth. 18,3 und weist in die entgegengesetzte Richtung der Entwicklung und des Fortschreitens in der Zeit. Der Weg zurück ist dem zitierten Vers nach ein Werden zum Ursprung. Der Weg vom Vaterhaus weg wird je länger, desto komplizierter, weil es sich immer weiter verzweigt. Der Weg zurück wird einfacher, und je näher wir zum Ausgangspunkt zurückgelangen, desto vertrauter wird uns alles. In unserer Heimat, in unserem Haus, brauchen wir weder ein Navi noch Erklärungen. Wir kennen doch alles. Vielleicht waren wir lange fort, doch ruft das Vertraute unsere Erinnerungen wach. Die Trennung ist aufgehoben. Heimkehr, Einkehr, Einswerden. Wir erleben die Freude des (Wieder-)Erkennens. Wenn wir das erleben, berühren wird das Ewige. Worte reichen nicht hinan, um zu beschreiben, was ein Mensch hierbei empfindet. Dieses Heimkommen kann eine Begegnung jeglicher Art im Alltag sein. Oder ein Text, ein gesprochenes Wort, ein Blickkontakt – es geschieht immer dann, wenn sich, wie Weinreb einmal sagt, das Jetzt dehnt und wir hineingelangen. In diesen Momenten trifft Ewigkeit und Zeit in uns zusammen. Aus diesem Einswerden entsteht Frucht aus dem Sein, welche sich im Sichtbaren manifestiert und uns als Wunder erscheint.

Nur wer wesentlich Mensch ist, nur ein »ben adam« (Sohn Adams oder Sohn des Menschen, >Menschensohn<), stellt die Frage nach dem »woher«. Wer sie unterlässt – aus Selbstsicherheit, oder weil er meint, dass die Zukunft und sein Lernen schon eine Antwort auf das Leben bringen wird –, dem fehlt, was den Menschen eigentlich ausmacht.
(Weinreb, Das chassidische Narrenparadies)

===================
Autor: Dieter Miunske